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Koalitionskompromiß mit viel Spielraum

In einem Spitzengespräch verständigen sie die Koalitionsparteien auf eine Entschließung zur Westgrenze Polens / Kohl verzichtet auf sein Junktim / Genscher auf ein Paraphieren nach der DDR-Wahl / Grenze definitiv anerkannt / Vertriebenen Chef Czaja kann damit leben  ■  Aus Bonn Ferdos Forudastan

Der vorgestern ausgerufene Koalitionsstreit um die Anerkennung der polnischen Westgrenze ist beigelegt. Während eines dreieinhalbstündigen Gespräches einigten sich die Fraktionsspitzen von CDU/CSU und FDP auf eine gemeinsame Erklärung, die morgen als Entschließungsantrag in den Bundestag eingebracht werden soll. Die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze wird darin nicht mehr, wie von Kohl seit Freitag gefordert, unmittelbar mit dem Verzicht auf Reparationszahlungen und Zwangsarbeiterentschädigung an Polen und dem Schutz der deutschen Minderheit verknüpft. Andererseits konnte sich auch die FDP mit ihrem Vorschlag, einen Grenzvertrag zwischen BRD, DDR und Polen nach dem 18. März zu paraphieren, nicht durchsetzen. „Im Kern“ sollen Gebietsansprüche jetzt und in Zukunft ausgeschlossen werden.

Noch gestern abend schienen die unterschiedlichen Standpunkte von FDP und CDU zur Garantie der polnischen Westgrenze eine ernste Koalitionskrise heraufzubeschwören: „Es wird in der Koalition sehr schwer“, soll Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Vorstand seiner Fraktion gesagt haben. Noch wenige Stunden zuvor hatte die FDP wiederholt das Kohlsche Junktim kritisiert. Als „Gretchenfrage der Republik“ hatte Kohl außerdem angeblich die offene Haltung der FDP zum Beitritt der DDR zur BRD gemäß Art. 23 Grundgesetz bezeichnet. Über beide strittigen Punkte soll es gestern morgen eine „deutliche Debatte, die nicht nur diplomatisch verlaufen ist“, so Generalsekretär Volker Rühe zu JournalistInnen, gegeben haben. „Ausgeräumt und geklärt“ sind nach Angaben eines CDU-Sprechers nun alle Meinungsverschiedenheiten.

Einen von „breiter Mehrheit getragenen Kompromiß“ nannte Helmut Kohl die Erklärung, auf die sich die Koalitionsspitzen geeinigt hatten. In der Tat deutet der Wortlaut des Papiers darauf hin, daß sich CDU/CSU einerseits und FDP andererseits auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben - und daß sich keine der beiden Seiten durchsetzen konnte. Deutlich zeigt sich an manchen Punkten der Einfluß der Liberalen: So wird eine Erklärung beider deutscher Parlamente und ein späterer Vertrag zwischen einem Gesamtdeutschland und Polen nicht mehr ausdrücklich davon abhängig gemacht, daß Polen auf Reparationen verzichtet und die Rechte der deutschen Minderheit vertraglich garantiert werden - auf diesem Junktim hatte Kohl bis gestern noch beharrt. Auch geht die Koalition im ersten Absatz der Erklärung weiter als bisher: Es sollen nach der DDR-Wahl nicht mehr nur beide deutsche Parlamente, sondern auch beide deutsche Regierungen eine gleichlautende Erklärung zur polnischen Westgrenze abgeben. Außerdem wird der Vorbehalt eines Friedensvertrages für die endgültige Grenzanerkennung weder im Hinblick auf die angestrebte gleichlautende Erklärung noch auf einen möglichen zukünftigen Vertrag zwischen Gesamtdeutschland und Polen mehr erwähnt - was allerdings nicht ausschließt, daß es bei Fortsetzung auf Seite 2

der Formulierung von Erklärung und Vertrag darum wieder Streit geben wird.

Aber auch die CDU hat sich an einigen Stellen deutlich durchgesetzt: So ist nun festgelegt, daß es einen Grenzvertrag nur zwischen Polen und einem Gesamtdeutschland geben kann. Dies vertreten Helmut Kohl und die CDU schon seit Tagen. Die FDP hingegen wäre gerne dem Vorschlag des polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki gefolgt,

wonach ein solcher Grenzvertrag von beiden deutschen Parlamenten paraphiert und von einem gesamtdeutschen Parlament endgültig ratifiziert werden sollte.

Durchgesetzt hat die CDU auch, daß ein Zusammenhang zwischen einem polnischen Verzicht auf Reparationen und der erneuten Bestätigung der Rechte der deutschen Minderheit einerseits und einer endgültigen Garantie der Grenze nun festgelegt ist - wenn auch nicht in der von der Kohl gewünschten Form eines Junktims.

„Mit der Erklärung leben“ kann sogar Herbert Czaja, CDU -Abgeordneter und Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen.

Daß sich die CDU/CSU bei der Abfassung der Erklärung teilweise auf Forderungen der FDP eingelassen hat, scheinen die Liberalen mit einer geänderten Haltung zur möglichen

Form der Wiedervereinigung begleichen zu müssen: Noch gestern hatte FDP-Chef Graf von Lambsdorff dafür plädiert, daß die DDR sich selbst dafür entscheiden müßte, ob sie nach Artikel 23 Grundgesetz der Bundesrepublik beitrete oder die Einheit über eine Volksabstimmung mit der möglichen Folge eines neugeregelten Grundgesetzes anstrebe. Es gebe in dieser Frage mit den Liberalen keinen Streit mehr, diese seien inzwischen mehrheitlich für den „Königsweg“ des Artikel 23, behauptete gestern vor der Presse Helmut Kohl.

Kurz zuvor hatte schon sein Generalsekretär Volker Rühe deutlich gemacht: „Es hängt sowieso viel davon ab, was wir raten.“ Wenn nicht alles ganz schnell - sprich über einen kalten Anschluß nach Artikel 23 - gehe, gebe es „einen Investitionsstau“, „da steht dann vieles still“.

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