: Hilde Schramm kapituliert
■ Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses will nach dem Eklat am Donnerstag ihr Amt zurückgeben / Tiefes Mißbehagen gegen parlamentarischen Betrieb
Die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses Hilde Schramm (AL) hat gestern in einem Offenen Brief ihren Rücktritt von diesem Amt angeboten, nachdem es in der letzten Plenarsitzung am Donnerstag zu einem Eklat gekommen war. Sie hatte kurz vor 19 Uhr die Sitzung wegen Beschlußunfähigkeit für beendet erklärt, da bei einer Abstimmung nur noch 48 der 138 Abgeordneten im Plenarsaal anwesend waren. (Wofür werden diese Herrschaften eigentlich bezahlt? d. säzzer.) Ausgerechnet während einer Großen Anfrage von SPD und AL zur „ungebrochenen Aktualität des Internationalen Frauentages“ hatte die Mehrzahl der Abgeordneten den Raum verlassen, vornehmlich in Richtung Kasino. Dort kann man über Lautsprecher den Lauf der Sitzung verfolgen, den meisten Abgeordneten war dort aber entgangen, daß man auf der Tagesordnung weiter fortgeschritten war. Als nächster Punkt sollte über die Konkursfähigkeit des SFB abgestimmt werden, Frau Schramm rief aber zunächst tatsächlich fälschlicherweise einen anderen Punkt auf. Während der Abstimmung bezweifelte ein CDU-Abgeordneter per Zuruf die Beschlußfähigkeit des Hauses, eine Auszählung ergab daraufhin, daß nur 48 Abgeordnete anwesend waren. Schramm erklärte nach kurzer Verwirrung im Saal die Sitzung für aufgelöst. Im Anschluß tagte der Ältestenrat und legte Hilde Schramm nahe, wegen mangelnder Beherrschung der Geschäftsordnung von ihrem Amt zurückzutreten. Es hätte Möglichkeiten gegeben, die Sitzung fortzuführen, so die Begründung.
In dem Offenen Brief an die AL-Fraktion kündete Hilde Schramm an, sie werde das von ihr ohnehin ungeliebte Amt „mit Vergnügen“ zurückgeben. Die Rituale im Parlament hätten ihre alten Vorbehalte gegen den vorherrschenden Parlamentarismusbetrieb nicht unterdrücken können. Sie gesteht in dem Schreiben durchaus formale Fehler ein, diese hingen aber weniger von ihrer Person ab als vielmehr von der spezifischen Funktion des Amtes. Nach den Wahlen im Januar 1989 war Hilde Schramm zu einer der beiden Vizepräsidentinnen gewählt worden, nachdem die SPD das Amt an den Koalitionspartner abgetreten hatte. Im Laufe dieses Jahres war mehrfach Kritik an ihrer unkonventionellen Amtsführung laut geworden.
Völlig ungeklärt ist allerdings innerhalb der Fraktion, wer es dann übernehmen soll. Im Gegensatz zu den etablierten Parteien, wo das Amt mit hohem Prestige verbunden ist, hält sich bei der AL die Leidenschaft dafür in Grenzen. In der nächsten Fraktionssitzung am Dienstag will die AL versuchen, eine „einvernehmliche Lösung“ zu finden, hieß es gestern gegenüber der taz. Die Fraktionsvorsitzende Heidi Bischoff -Pflanz kritisierte gestern die Abwesenheit der Abgeordneten. Nicht die formale Feststellung, sondern die Beschlußunfähigkeit als solche sei der Skandal.
kd
(Siehe Dokumentation auf S. 30)
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