: Aus der großen Strafanstalt
■ Flüchtige Beobachtungen beim Blättern durch das Angebot der etablierten DDR-Verlage / Das neue Verlagsprogramm ignoriert die politischen Veränderungen zwischen den beiden deutschen Staaten
Leipzig (taz) - Die DDR-Verlage haben sich, was ihr Programm angeht, offensichtlich noch nicht auf einen gesamtdeutschen Markt eingestellt. Der Verlag Volk und Welt hat eingekauft wie immer: Eco, Bellow, Freud, Genet, John le Carre (Das Rußlandhaus), Graham Greene, Handke, Camus, Vargas Losa, Nabokov, Nooteboom, Duras. Was geschieht mit gut zwei Dritteln dieser Lizenzproduktionen, wenn die BRD-Verlage direkt in der DDR ausliefern? Wird Rowohlt Elfriede Jelineks Lust auch in diesem Fall Volk und Welt überlassen? Was ist mit Canettis Masse und Macht, angekündigt für den Herbst? Wird der Hanser-Verlag es nicht an die Buchhandlungen der DDR ausliefern, wenn es keine DDR mehr gibt? Jedenfalls scheinen alle Planungen der Verlage davon auszugehen, daß sich nichts ändern wird. Nichts? In einigen Fällen wird doch geändert, mit schamloser Energie. Zum Beispiel das Programm des Parteiverlages der SED/PDS: Der Dietz-Verlag bringt u.a. Isaac Deutschers Stalin-Biographie, Leo Trotzkis Stalins Verbrechen; Autoren, die auch nur zu zitieren noch vor wenigen Monaten keinem Dietz-Autoren eingefallen wäre, ohne die Herren als Klassenverräter und „Agenten des Kapitals“ zu beschimpfen. Daneben bietet der Verlag Arbeiten an, die vor 30 Jahren hätten veröffentlicht werden müssen; etwa Chrustschows Geheimrede aus dem Jahre 1956. Oder Texte, deren nostalgischer Wert ihrem realen zu keiner Zeit entsprach: Deutsche Konföderation - Vorschläge und Stellungnahmen von Regierungen und Parteien der DDR 1957 bis 1967. Verdienstvoll? Nein. Das wären sie vor ein paar Jahren gewesen. Heute sind es Rückzugsgefechte, Erzeugnisse einer Verlagspolitik, die jetzt alle Register ziehen möchte, um sich als Linke verkaufen zu können.
Der komischste Titel ist der von Herbert Wolf und Stefan Wohanka: Quo vadis DDR-Wirtschaft? Er ist angekündigt für das dritte Quartal. Fragt sich, ob es dann noch so etwas gibt wie eine DDR-Wirtschaft.
Von bewundernswerter Eleganz dagegen die Publikationspolitik des Akademie-Verlages. Dort erscheint jetzt Thomas von Aquins Über die Sittlichkeit der Handlung. Der heilige Thomas verhandelt so aktuelle Fragen wie „Kann die gute Absicht allein ausreichend sein, eine Handlung gut zu nennen?“ Es gibt viele Linke in der DDR und in der BRD, die diese Frage zu bejahen scheinen. Jedenfalls erklären sie einem, die PDS trete doch wenigstens für die richtigen Ideale ein, während die anderen Parteien alles, nur nicht die armen Leute im Sinn hätten. Sie sollten nachlesen, wie wenig die gute Absicht allein taugt. Aber wem 40 Jahre Praxis nicht genügen, dem wird wohl auch ein Heiliger Thomas nicht helfen können. Der Mitteldeutsche Verlag meldet ein Buch an, das vielversprechend klingt: Die unter dreißig - Selbstporträt einer Generation. Im Begleittext heißt es: „Die unter 30 verließen im Sommer '89 zu Zehntausenden das Land und lösten die Erschütterungen aus, die alles veränderten. Im Frühjahr '89 hatten die Herausgeber zu Einsendung von Texten aufgefordert (...) Die Ereignisse des Sommers geben der Anthologie eine aktuelle Bedeutung. Sie ist Inventur der Lebensverhältnisse einer Jugend, deren dringendste Erfahrung die der Begrenztheit und Unbewegtheit war, die sich ohne Geschichte und ohne Perspektive fand.“
Bei Hinstorff in Rostock erscheint Lord Müll, eine Erzählung von Norbert Bleisch. „In einer großen Strafanstalt bricht eine geheimnisvolle Seuche aus“, die nur das Wachpersonal befällt. Die Häftlinge pflegen die kranken Wärter und sichern das Anstaltsleben ab. Doch eines Tages können der Direktor und der Arzt ihre letzte Entscheidung nicht mehr hinauszögern: Den Gefangenen auch die Anstaltsleitung zu übertragen. An diesem Tag zieht der Gefängnisdirektor aus seinem Büro in eine der Zellen. Wie werden die Häftlinge die Chance zur Selbstverwaltung nützen?“
Arno Widmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen