: Grausames Dokument
■ R A D I O D A Y
(„Pflichtmandat“, heute,
20 Uhr, Rias 1) Am Anfang war die Frage, das heißt, sofern sie zugelassen wurde. Paul Hengge, Autor des Hörspiels Das Pflichtmandat, hat das nicht vergessen. Vielleicht sagt ein Instinkt den groß gewordenen Kleinen, daß sich's so auch bequemer lebt. Doch Hengge sieht das anders und kleidet die bedrückenden Sinnfragen seines Stücks, die vom gesellschaftlichen Gewissen so gern in die tiefsten Schubladen verbannt werden, in Kinderstimmen. Das Frage -Antwort-Spiel wird so zum formalen und inhaltlichen Gerüst des Stücks. Im unerbittlichen Rhythmus brechen die Stimmchen mit Grundsätzlichem in die Scheindialoge der „mündigen Bürger“ ein. „Was ist ein Freund“ -„Was ist ein Konzentrationslager?“ - „Was ist Schuld?“
Die Rechtsanwältin Gabriele wird zur Pflichtverteidigung eines Mannes beordert, der einen alten Herrn schwer verletzt hat. Dieser Fall trifft die Staatsanwaltschaft an einer empfindlichen Stelle, ihrer berufsinternen Vergangenheitsbewältigung. Denn der Täter Aaron Reichenbach war, so läßt eine auf seinen Arm tätowierte Nummer vermuten, Häftling in einem Konzentrationslager. In der U-Haft schweigt er jetzt hartnäckig und läßt sein Tatmotiv im Unklaren.
Doch Richter Brinkmann ist um seine weiße Weste besorgt und betraut die gewissenhafte Rechtsanwältin aus „kosmetischen“ Gründen mit der Sache. Bald schon stellt sich die Opfer -Täter-Frage völlig neu, denn der Überfallene, Krenn, war 1945 als SS-Obersturmführer verantwortlich für die Ermordung von zwanzig jüdischen Kindern, unter ihnen Reichenbachs Schwester. „Wer ermittelt?“, fragt da eine lernbegierige Kinderstimme. „Der Staat. Vertreten durch seinen Anwalt. Durch den Anwalt des Staates. Durch den Staatsanwalt.“ Die pompös und schulmeisterlich gegebene Antwort pointiert die Anonymität der Institution „Rechtsprechung“. Das Gesetz bestimmt das Recht und der Staat das Gesetz und das Recht verteidigt den Staat. Krenn, der Nazi-Täter, hat einflußreiche Freunde und wird für permanent vernehmungsunfähig erklärt. Wie so oft bleibt zwar die Schuld, aber die Verbrecher sind nur Phantome. Der Entlastungsspruch für Krenn aber ist bodenloser Zynismus: „Die Ermittlungen haben nicht ergeben, daß die Kinder sich über Gebühr lange quälen mußten, bevor sie starben.“ Diese amtsdeutsche Grausamkeit entstammt einem existierenden Dokument: Am 20.April 1945 hat es in Hamburg einen Kindermord gegeben, und der dafür verantwortliche Arnold Strippel wurde mit dieser Begründung juristisch von seiner Schuld erlöst.
GeHa
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