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Andersherum wird ein Schuh draus

■ betr.: "Ja zur Wiedervereinigung", taz vom 29.3.90

betr.: “'Ja‘ zur Wiedervereinigung“, taz vom 29.3.90

Es ist schon merkwürdig, welch hintertreppenwitzige Koalitionen die Niedervereinigungsfrage wiederbelebt: Bis vor kurzem beschimpfte Henryk M.Broder alle, die Israels PalästinenserInnenpolitik rassistisch nannten, als „Linke Antisemiten“. Rudolf Augstein wiederum, seit 9. November von pathologischem großnationalistischen Gehirnschluckauf befallen, kritisierte Israel wiederholt entsprechend. (...) Und nun finden sich beide erneut zwangsvereint, Augstein mit seinen spiegelblinden Biedervereinigungs-Kommentaren, Broder mit einem taz-(ab)gesegneten „Ja zur Wiedervereinigung“, beim Vesuch, „den Deutschen“ demokratische Dauerpersilscheine auszustellen. Ein gefährliches, weil deren Demokratieverständnis wider besseren Wissens idealisierendes und damit brandstifterisches Unterfangen. Das zeigen schon einige Argumente, die Broder dafür ins Feld führt.

Die Deutschen des Jahres 1990 seien schon deshalb nicht die von 1945 (es müßte heißen 33-45!), weil sie gelernt hätten, „daß es angenehmer ist, in einer Demokratie zu leben, zu reisen, zu kaufen und zu konsumieren, als zu marschieren, zu kämpfen...“. Andersherum wird ein Schuh daraus. Gerade weil sie „in ihrer großen Mehrheit“ nichts anderes lernten wie: „Demokratie“ gleich „hemmungsloser egozentrischer Materialismus“, ist das vermeintlich vorhandene, demokratische Bewußtsein vieler Menschen Popanz; ist Bewußtseinstünche, unter der die alte Farbe an allen Ecken und Enden hervorschimmert. Der (wes Brot ich eß, des Lied...?) allzuwohlmeinende Broder begeht den Fehler von Allzuvielen. Sie begreifen Antisemitismus immer nur als seine eigene Ursache, statt als Wirkung. Tatsächlich aber war und ist er ein Symptom von Rassismus. Und der ist in diesem unserem Lande so virulent wie eh und je. Sobald die meisten Deutschen einmal - die Wiedervereinigung könnte schneller dazu führen, als der Welt lieb sein kann - nicht mehr reisen, kaufen und konsumieren können, wird der egozentrisch-chauvinistische Rassismus hierzulande neue Triumphe feiern. (...) Das aus Geschichtsbewußtsein erwachsene Mißtrauen gegenüber den rosa-grün-weinerlichen und schwarz-braun-arroganten deutschen Demokratiebeteuerungen ist nur zu berechtigt.

(...) Broder und all die anderen Vereinigungs-Verharmloser gehen vom derzeitigen Ist-Zustand aus. Der aber kann sich in historischen Zeitdimensionen gesehen - sehr schnell ändern. (...). Lobende Appelle an das vermeintlich „Gute im Deutschen“ nützen da nichts. (...) Deshalb kann das Motto der Stunde nur lauten: Erst ein einiges Europa mit einer neuen Friedensordnung, dann ein einiges Deutschland in diesem Europa. Eines, mit vertraglich festgelegter und von unseren Nachbarn jederzeit zu kontrollierenden Defensivrüstung. Eines, dessen zu jedem Angriff unfähiges Verteidigungsheer diesen Namen verdient. Alles andere heißt die Wolfstöne aus dem deutschnationalen Schafspelz von Kohl, Augstein & Co. mit Schalmeienklängen des Friedensengels zu verwechseln. (...)

Werner Schlegel, Journalist und Schriftsteller (Stellvertr. Bezirkssprecher der „Fachgruppe Literatur in der IG-Medien“, wie der Schriftverstellerverband jetzt so idiotisch -bürokratisch heißt) und Mitglied des in Essen gegründeten „Aufbruch 90“, einer BürgerInnen-Sammlungsbewegung für Volksdemokratie

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