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Der europäische Sündenfall

■ Karl Georg Zinn, Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert

Heide Gerstenberger

Karl Georg Zinn bezieht sich nicht ausdrücklich auf die Chaostheorie, aber sie hat ihn fest in den Klauen.1 Denn er ist der Ansicht, bis zum 14. Jahrhundert hätten die Menschen in einer Versorgungshierarchie gelebt, der technische Fortschritt sei auf die Steigerung der Agrarproduktivität gerichtet gewesen und unmittelbar der Mehrheit der Bevölkerung zugute gekommen; schützende Normen hätten die Brutalisierung der Gesellschaft verhindert und erlaubt, daß die Menschen in Gottvertrauen lebten.

Dann aber, im 14. Jahrhundert, sei das „außerhistorische Ereignis“ der Pest über die europäische Welt gekommen, habe die Sozialstrukturen zerstört, das Gottvertrauen genommen, die Menschen in Angst versetzt und sie deshalb aggressiv gemacht. Seit damals sei die europäische Gesellschaft brutalisiert, die Moral sei untergegangen und aus der ständigen latenten Angst sei Vernichtungswille erwachsen. Gleichzeitig habe sich die Richtung der Technik grundsätzlich geändert. Seitdem die Gesellschaft von Vernichtungswillen durchdrungen sei, habe sich technischer Fortschritt vor allem im Bereich der unproduktiven Kriegstechnik vollzogen.

Die Erfindung der Feuerwaffen im 14. Jahrhundert gilt Zinn als Ausdruck der Zeiten- und Technikwende. Sie habe die Entstehung des Kapitalismus gefördert, gleichzeitig aber dazu geführt, daß sich der Lebensstandard der breiten Bevölkerungsmehrheit vom 14. bis zum 19. Jahrhundert ständig verschlechtert habe.

Zinn sieht es als seine Aufgabe an, die undemokratische Vorgeschichte der heute demokratischen Gesellschaften aufzudecken. Zentraler Inhalt dieser Vorgeschichte ist für ihn die „symbiotische Verbindung von Kapitalismus und angstbestimmter Mentalität“. (16) Weil diese Symbiose „kollektivpsychologisch tief verankert“ sei, müßten „die mentalen Langzeitfolgen“ des chaotischen 14. Jahrhunderts in einer Art „historischer Psychoanalyse“ aufgearbeitet werden, damit die Europäer ihren Beitrag zum Weltfrieden leisten können.

Schließlich schlägt Zinn - neben vielen Revisionen von Interpretationen, die in der historischen Forschung etabliert sind - die Begründung einer neuen Forschungsrichtung vor: die Atroxologie. Gemeint ist eine Wissenschaft von den Scheußlichkeiten, die Menschen einander antun, von ihren überhistorischen Konstanten und ihren spezifischen Ausprägungen. Auch die Pest hat eine Geschichte

Richtig ist, daß der Pest, die 1347 auf Genueser Schiffen nach Europa eingeschleppt wurde, in den Jahren 1348 bis 1352 mindestens ein Drittel, vielleicht sogar die Hälfte der damaligen Bevölkerung Europas zum Opfer fiel. Für ein weiteres halbes Jahrhundert brach die Seuche in kurzen Abständen erneut aus. Die Pest war, was man früher eine Heimsuchung nannte, aber ein „außerhistorisches Ereignis“ war sie nicht. Denn obwohl die Pest vom üblichen Maß der ohnehin immensen Gefährdung des Lebens abwich, sind ihre Verbreitung und ihre Wirkungen doch nur im Zusammenhang spezifischer gesellschaftlicher Verhältnisse zu erklären.

Sie traf - nicht nur, aber vornehmlich - die Schlechternährten und jene, die der Pest nicht entfliehen konnten, und für diese materielle Lage lassen sich ziemlich genaue historische Ursachen angeben. Deren wichtigste ist, daß - anders als Zinn annimmt - in der europäischen Welt vor der Pest der Krieg die dominante Kulturform war2 und daß die Mittel dazu einer Bevölkerung abgepreßt wurden, die, als die Pest ausbrach, der Seuche wenig Widerstandskräfte entgegenzusetzen hatte.

Während und nach den Jahren der Pest sahen sich manche Herren veranlaßt, Freiheiten zuzugestehen und Abgaben zu mindern, andere sahen sich gezwungen, höhere Löhne zu zahlen. Mächtige Herren konnten es jedoch wagen, trotz veränderter „Arbeitsmarktlage“ den „Ausfall“ von Arbeitskräften durch die Erhöhung von Fronen auszugleichen3. Die Pest veränderte die Bedingungen für Auseinandersetzungen um das Ausmaß und um die Formen der Abpressung, aber sie bewirkte nicht den Untergang der alten Herrenschicht und das Aufkommen einer neuen. Zinn unterstellt jedoch, nach der Pest hätten die Städter die führende Rolle übernommen. Weil er sie für die Träger der Feuerwaffentechnik hält, läßt er „die Bürger“ mit einem Sündenfall in die europäische Geschichte eintreten.

Halten wir uns an Zinn, so gilt es die „Technik“ „vor Chaos“ und die Bedeutung der Schußwaffen „nach Chaos“ zu betrachten. „Vor Chaos“ wuchs Zinn zufolge die Bevölkerung aufgrund gestiegener Agrarproduktivität. Als Ursache führt er die Einführung des eisernen Pfluges, die Dreifelderwirtschaft und die Wassermühle an. Lediglich nebenbei wird erwähnt, was in der Forschung heute als die wichtigste - wenn nicht sogar ausschließliche - Ursache für die gestiegene Agrarproduktion nach der Jahrtausendwende angesehen wird: die Bebauung neuen oder vorher wüstgefallenen Landes. Das Beispiel Wassermühle

Die Diskussion, die dazu geführt hat, daß einzelne produktionstechnische Veränderungen heute kaum noch als Ursachen für die gestiegene Agrarproduktion angenommen werden, ist hier nicht auszuführen4, aber am Beispiel der Wassermühlen läßt sich gut erläutern, wie unsinnig eine unhistorische Vorstellung von „technischem Fortschritt“ ist. Wassermühlen gab es, regional in beträchtlicher Anzahl, bereits vor dem Jahr 1.000. Diese Technik schuf die Möglichkeit, die Arbeitskraft, die bislang auf das Mahlen per Hand verwandt worden war, anders einzusetzen. Da es sich bei der freigesetzten Arbeit um weibliche Tätigkeiten handelte5, ist allerdings nicht ohne weiteres zu folgern, die Einführung von Wassermühlen hätte es möglich gemacht, mehr Land unter den Pflug zu nehmen. Wichtiger ist, daß anders als vor der Jahrtausendwende - die Errichtung sehr vieler neuer Mühlen im 11. und 12. Jahrhundert Investitionen in intensivierte bäuerliche Ausbeutung bedeuteten.

Zinn führt zwar aus, nur größere Besitzer hätten Mühlen bauen lassen können und Bauern hätten sich gegen den ihnen abverlangten Mahlzins gewehrt, weshalb denn auch Herren oft Handmühlen zerstören ließen. Aber das liest sich bei ihm so, als ob eine rückständige Bevölkerung zu ihrem Glück hätte gezwungen werden müssen. Wohlhabendere Bauern, aber davon gab es nun einmal nicht sehr viele im 12. und 13. Jahrhundert, wurden durch die Abgabe, die sie für die zwangsweise Benutzung der Mühle zu entrichten hatten, nicht notwendig materiell belastet. Armen Bauern kam dieser technische Fortschritt nicht zugute, ganz im Gegenteil.

Mühlen ermöglichten zwar Produktivitätsfortschritte, aber im Zusammenhang von Bann- und Grundherrschaft führte die zwangsweise Ersetzung weiblicher Handarbeit durch Technik für die meisten Bauernfamilien zur Verschlechterung ihrer Versorgung.

„Nach Chaos“ wurde menschenfreundlicher technischer Fortschritt Zinn zufolge durch die Investitionen in unproduktive Kriegstechnik und durch die fortschrittsfeindlichen Zünfte verhindert. Ausgeführt wird letzteres nicht. Sonst hätte wohl auch deutlich werden müssen, daß die Vorstellung von Technik, die sich an ökonomischen Innovationen im Kapitalismus orientiert und auch dort zumeist nur herausragende Neuerungen in den Blick bekommt, auf Verhältnisse, in denen Handwerk, Kunst und Alchimie noch eine kaum ausdifferenzierte Einheit bildeten6, nicht zu übertragen ist und auch, daß diese Konzeption an der Analyse der beträchtlichen Entwicklungen im Handwerk und im Bergbau scheitern muß. Breitseitengefechte und

der Krieg der Spezialisten

Lassen wird das alles dahingestellt und folgen Zinn zu den Schußwaffen. Vor ihrer Erfindung waren Kriege seiner Ansicht nach weit weniger intensiv und nicht auf Vernichtung ausgerichtet. Wir sollten uns von Zinn nicht dazu verleiten lassen, die Metzeleien „vor Chaos“ mit denen „nach Chaos“ zu vergleichen. Festzuhalten ist jedoch, daß die bedeutsamste Strukturveränderung des Krieges im 15. und 16. Jahrhundert im erneuten und vor allem neuartigen Einsatz von Infanterie lag. Schweizer Söldner, deutsche Landsknechte und Spanier kämpften mit Piken bewaffnet in Gevierthaufen und konnten gegen Berittene eingesetzt werden.

Mit Feuerwaffen ließ sich noch lange nicht zielen und mit schwerer Festungsartillerie wurde oft tage- und wochenlang auf Mauern geschossen, bevor ein Stein herausfiel. Für Schiffe, da hat Zinn Recht, setzten sich Schußwaffen schnell durch. Das belegt jedoch nicht die militärische Bedeutung der Schiffsartillerie. Breitseitengefechte waren nur möglich, wenn Schiffe weniger als 400 Meter voneinander entfernt waren und eine Neigung von unter zehn Grad hatten7. Unabdingbar waren ferner disziplinierte Geschützmannschaften und Stückmeister, die die Kunst beherrschten, zu berechnen, wie viel Pulver erforderlich war, um eine Kugel abzuschießen. (Erst im 18. Jahrhundert verlor das Wissen der Feuerwerksmeister an Bord den Charakter des Geheimwissens.)

Lange nach Einführung der Schiffsartillerie galt diese lediglich der Vorbereitung von Kämpfen, die mit Armbrüsten und Langbogen ausgefochten wurden. Kanonen machten einen höllischen Lärm. Bei Kämpfen gegen außereuropäische Gegner konnte das militärisch genutzt werden. Aber beim Einfall der Spanier in Südamerika, auf den sich Zinn mehrfach beruft, wurde nach wie vor in erster Linie „von Hand“ gemordet.

Der Zusammenhang von Feuerwaffen und Kolonialismus begründet für Zinn Kapitalismus. Diesen versteht er einerseits schlicht als Ausweitung von Handelsbeziehungen, andererseits als eine Kombination von Realkapital (Boden, Handwerkszeug, Maschinen) mit Arbeitskräften. Das ist traurig. Denn der spezifisch historische Charakter kapitalistischer Produktion, die Herrschaft von Kapitalseignern über den Produktionsprozeß und damit über die an diesem Prozeß beteiligten Menschen, kommt so nicht in den Blick.

Soll die Entstehung dieser sozialen Organisation der Produktion erklärt werden, bedarf es einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von Herrschaft und mit den Formen der Produktion in der frühen Neuzeit. Mit Hinweisen auf Feuerwaffen, Vernichtungswillen und koloniale Expansion ist da wenig gewonnen.

Zinns unhistorischer Umgang mit der Geschichte hat manchmal erheiternde Seiten, so etwa, wenn er ein Programm alternativer Wirtschaftspolitik für die Zeit nach der Pest entwickelt. Wegen des erhalten gebliebenen Realkapitals hätten damals Zinn zufolge nämlich mehr Arbeitsplätze in den Städten geschaffen werden können. Auf diese Weise wäre die Unterkonsumtionskrise schnell überwunden worden und die beträchtlichen „Wachstumspotentiale“, die aus „wachstums und entwicklungstheoretischer Sicht“ nach der Pest bestanden, wären nicht verschleudert worden. (193)

Nebensächlichkeiten, wie die Tatsache, daß es auch nach der Pest noch Grundherrschaft gab und daß Bauern oft lange versuchten, die ihnen vertraute Existenzweise weiterzuführen, bevor sie sich der Rationalität des Arbeitsmarktes unterwarfen, scheren den Ökonomen nicht.

Ganz und gar nicht erheiternd sind Zinns „atroxologische“ Ausführungen. Er sieht die Aufgabe wissenschaftlicher Forschung nicht darin, die historisch spezifischen Ursachen einer Tötungspraxis zu untersuchen - also etwa zu fragen, warum Polynesier 1791 James Cook umbrachten und verzehrten, warum US-Soldaten 1891 am Wounded Knee Angehörige von Sioux -Stämmen niedermachten, warum nach 1942 in Deutschland Industrieanlagen zur Durchführung von Morden in Betrieb gesetzt wurden und wie der Zusammenhang zwischen den jeweiligen Formen des Tötens und deren Ursachen ist -, sondern er will erstens den Grad von Scheußlichkeiten miteinander vergleichen und zweitens die durchgängige Struktur der europäischen Vernichtungspraxis seit der großen Katastrophe aufdecken. Der schnelle Abgang in

die Mentalitätsgeschichte

Die Judenpogrome der Pestzeit gelten ihm als erster historischer Ausdruck dieser Strukturkonstanten. Ob sich diese Pogrome, wie Zinn behauptet, von früheren dadurch unterschieden, daß sie obrigkeitlich gelenkt und teilweise regelrecht geplant waren, kann ich nicht beurteilen. Ganz sicher bin ich jedoch, daß Pogrome nicht dazu benutzt werden dürfen, die Existenz einer europäischen Mentalität zu begründen. Entstanden seien diese Pogrome, weil Menschen in der angstgeschwängerten Zeit des Chaos Sündenböcke brauchten. Das ist zwar etwas krude, aber sicher nicht falsch. Doch kam es zu den Pogromen der Pestzeit - wie auch Zinn weiß - in Städten, und dort wohnte damals nicht mehr als ein Zehntel der Bevölkerung. Nicht alle Stadtbewohner beteiligten sich an Pogromen. Diese sind für Zinn dennoch Ausgangspunkt und Ausdruck einer neuen - für die gesamte europäische Welt kennzeichnenden - Mentalität, denn „Indifferenz, Billigung oder opportunistische Mitläuferhaltung stellen...notwendige Bedingungen dar, um die Exzesse einer Minderheit ungehindert ablaufen zu lassen“. (205)

Wie - um alles in der Welt - sollte sich eine Bäuerin in den Cevennen oder ein Bauer im Zentralmassiv opportunistisch an Judenpogromen beteiligen, von denen sie oder er - wenn überhaupt je - erst Monate oder Jahre später hörte? Der Sozialtypus des Mitläufers setzt eine spezifische Öffentlichkeitstruktur voraus. Die gab es im 14. Jahrhundert nur lokal. Auch wenn Lloyd de Mause seit einigen Jahren feuilletonistische Interpretationen als Psychohistorie ausgibt und dabei solche Kleinigkeiten wie soziale Unterschiede, soziale Gegensätze und gespaltene Öffentlichkeiten außer Acht läßt, um von nationalen psychischen Zuständen handeln zu können, sollte derartige „Erforschung“ der Mentalitäten doch nicht wissenschaftlicher Standard werden. Die Mentalität des modernen europäischen Menschen - Zinn charakterisiert sie als intellektuellen Individualismus und materiellen Egoismus (154) - wurde weder im 14. Jahrhundert noch sonst irgendwann einmal konstituiert.

1) Zur Kritik der Übertragung des Konzepts auf die Sozialwissenschaften vgl. Rainer Paslack, “...da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein“. Die Karriere des Chaos zum Schlüsselbegriff; in: Kursbuch Nr. 98 (1989), 121-139.

2) Die Formulierung stammt von Philippe Contamine, seit Hans Delbrück der vermutlich bedeutendste Vertreter einer Forschungsrichtung zur Kriegsgeschichte, die nicht die Technik, sondern die soziale Organisation des Kriegs„gewerbes“ in den Mittelpunkt stellt, vgl. etwa seine Arbeit: Guerre, Etat et Societe a la Fin du Moyen Age, Paris 1972.

3) Für Belege vgl. etwa: John E. Martin, Feudalism to Capitalism, London & Basingstoke 1983.

4) Ein kurzer Überblick findet sich in: Jean-Pierre Poly & Eric Bournazel, La Mutation Feodale, Paris 1980, 8. Kap.

5) Ein Umstand, den neuerdings auch Georges Duby gegen die früheren Interpretationen ins Feld führt: vgl. Georges Duby, Le Moyen Age, Paris 1987, 66.

6) Zur Kritik dieser Art von Technikgeschichte vgl. Raffaelo Vergani, Innovation im Bergbau und Hüttenwesen im Veneto vom 16. bis 18. Jahrhundert; in: Technikgeschichte (Hrsg. VDI9, Nr. 4 (1987), 273-292; und: Maurice Dumas, Technikgeschichte: Ihr Gegenstand, ihre Grenzen und ihre Methoden; in: R. Rürup & K. Hausen, Hrsg., Moderne Technikgeschichte, Gütersloh 1975, 31-45.

7) Zu weiteren Einzelheiten vgl. Peter Padfield, Guns at Sea, London 1973.

Karl Georg Zinn, Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Westdeutscher Verlag, 54,-DM.

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