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Heringe und Sozialismus

 ■ V O R L A U F

(Arkona, Retra, Vineta - Eine Reise zu versunkenen Orten, West 3, Sonntag 15 Uhr) Der Hering und der Sozialismus. Genauer läßt sich das Mißverhältnis zwischem dem angepeilten Ziel der Planwirtschaft und der tatsächlichen Versorgung nicht beschreiben. Ein Lkw-Fahrer steht vor der Ladefläche seines Pritschen-Lasters, Heringsköpfe lugen zwischen den Brettern hervor, von der prallen Sonne beschienen. „Gesagt worden isses, man soll ja den Hering mit dem Kühlwagen fahren“, sagt der Fahrer und läßt seine Hand fallen. In diesem Abwinken ist die ganze Malaise der realsozialistischen Ökonomie gefaßt. Es erklärt, warum es am Strand von Usedom reichlich Fisch gibt, der dann nicht mehr in die Haushalte kommt, geschweige denn auf den nächsten Wochenmarkt nur wenige Kilometer landeinwärts. Oder warum die Fischer acht Mark für den Aal bekommen, den Kunden in Berlin für 75 Mark pro Kilo kaufen können. Wenn es ihn gibt. Der DDR-Dokumentarist Volker Koepp hat die Menschen in Zempin, irgendwo auf Usedom, besucht und im Mikrokosmos des Fischerdorfs etwas gefunden, das mehr aussagt über die Struktur der DDR als jeder Horrorbericht über die großen Verfehlungen der Planwirtschaft.

Eigentlich hatte es Volker Koepp gar nicht darauf angelegt, eine Situationsanalyse gescheiterter Herings-Politik abzugeben. Ursprünglich wollte er in der DDR des Jahres 1989 nach der legendenumrankten Stadt Vineta, dem „Atlantis des Nordens“ forschen - auf den Spuren einer reichen, versunkenen Welt. Doch unwillkürlich kommt es bei dieser Suche zu faszinierenden Analogien mit demn Alltag der Menschen, die heute in der Nähe der verschollenen Orte leben. Indem Koepp nicht nach dem Hier und Jetzt fragt, sondern den Umweg über die Vergangenheit nimmt, legt er im Bewußtsein der Leute Schicht für Schicht die Erinnerung an Zurückliegendes frei, das sich massiv auf die Gegenwart auswirkt. Überall schimmert ein ungeheurer Druck durch, der die Dinge früher oder später in Bewegung bringen wird. Wie nah Koepps Weggehen von der Aktualität an den stürmischen Ereignissen im November liegt, ist ein Erlebnis. Wie bewußt die Menschen ihre Unzufriedenheit lange vorher artikulieren, ohne sich anschließend großartig wenden zu müssen, macht Hoffnung auf unbequeme Fragen auch nach der Wiedervereinigung.

Christof Boy

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