: Vom Urmeer zum Speckknödel
■ Eine kurze Einführung in die Geschichte Tirols von Walter Klier
Vom Urmeer
zum Speckknödel
Eine kurze Einführung in die Geschichte Tirols
von
WALTER KLIER
unächst braust die Zeit in fünf heftigen Schüben über die frisch erschaffene Welt hinweg: Kambrium, Silur, Devon, Karbon und Perm. Ohne den Menschen gibt es aber kein echtes Zeitgefühl und daher keine Geschichte. Wüst und leer taucht das Land aus dem Urmeer, und dann könnte man gleich mit dem Krieg anfangen. Das Land überzieht sich mit Amöben, dann Wald und wird die älteste Festlanddemokratie. Die Evolution fuhrwerkt wie blöd, bis endlich der Sozialstaat fertig vor uns steht. Gattungen übertauchen die Eiszeit am Mittelmeer und kehren zögernd zurück, bevor sie ausgerottet werden. Die Alpen werden verschoben, gehoben, gefaltet, abgetragen, gekerbt, gehobelt, zittern bei der leisesten Erschütterung; sofort bricht ein Stück ab und tötet Unvorsichtige und Übereifrige. Kleine Raubsäuger beherrschen das Feld. Die großen Panzerechsen sterben. Bald darauf der Bär, der Luchs, der Steinbock. Die Wissenschaft nimmt sich ihrer an. Jäger und Sammler dringen in die unwegsamen Täler.
Erste Ortsnamen werden verteilt, selbstverständlich nur rein deutsche. Kimbern und Teutonen rodeln auf ihren Schildern zu Tal in den sicheren Tod von Römerhand. Der Nährstand wird mittels Steuerlast fast ermordet, er läßt es sich aber nicht verdrießen, wir sind und bleiben freie Tiroler Bauern, hollodrio! Die Wehrhaftigkeit wird von unseren Schützen malerisch zum Ausdruck gebracht.
Wir überspringen nun die Abschnitte Völkerwanderung, Mittelalter und 1933 bis 1945, damit es nicht zu langatmig wird. Bei Abfassung der ersten Urkunden gehört das Land mit Haut und Haar der Kirche. Wie das wohl zuging? Diese Schreckensherrschaft endet da und dort noch nicht. Hauptsächlich - und damit stehen wir mitten in der Gegenwart und haben dem Geschehen teilweise vorgegriffen - herrscht der Landeshauptmann, welcher vom Bauernbund bestimmt wird und regiert, bis er fast stirbt. Das Volk wählt, wie schon der Name sagt, lediglich die Volkspartei.
Zustand des Landes: von Lärmschutzmauern gevierteilt. Darmausgang Europas. Millionen vierrädriger Blechexkremente werden durch uns durchgedrückt, italienwärts. Jumbo-Jets und Atomwolken rasen zusätzlich drüberweg wie über jedes zivilisierte Land. Bald auch noch Drachenschwärme.
s herrscht ein Höllenlärm, wenn man die viertelstündlich hämmernden Kirchenglocken, die Samstagmittagssirenen und die Freiluftvolksmusik mit einrechnet. Der Tourist ißt in guter Hand. Wohl bekommen ihm der Speckknödel, das Beuschel, der Wasserkakao. Franzosen und Italiener wundern sich über unser Essen zu Recht, der deutsche Gast ißt es zufrieden. Er zahlt in Deutscher Mark, der schönsten Währung der Welt, das Stück zu sieben Schilling. Diese Parität geht mit uns durch dick und dünn. Extra Portion Senf kostet zehn Schilling. Betrunkenen und Jugendlichen wird nichts geschenkt.
Die Kirche bleibt im Dorf, die Moral in der Hose. Die Hose ist aus Loden oder Leder. Wegen drohenden Erwerbs einer Immunschwäche muß man neuerdings leider öffentlich über den Geschlechtsverkehr reden, was uns lange erspart blieb. Die Sehnsucht nach der Sehnsucht, das heißt, der echten Liebe, ist davon aber unberührt. Manchem drückt sie schier das Herz ab, und er muß darüber ein Buch schreiben. Heute, wo Treue oft kleingeschrieben wird und alle Werte zum Teufel gehn, bleibt doch ein alter Brauch erhalten: Eingeborne Burschen schleichen um Mitternacht durchs Dorf, um deutsche Pelztiere zu bespringen. Der Bursch ist definitionsgemäß geil wie eine Hochzeitstorte (die andren schickt man in die Stadt zum Studieren): aber nur in der Not frißt er aus einheimischem Geschlechtsspendeloch.
ann aber wahllos. Ruck, zuck eine Leiter gepackt und hinauf und hinein ins nächste beste offne Fenster. Wird die Frau im Schlaf besprungen, erfüllt sich der Tatbestand der Schändung. Staunend liest es der mehr städtische Leser des lokalen Tagblatts. Währenddessen wird das Land erbarmungslos zubetoniert, stellenweise aufgestaut, in Zukunft zusätzlich untertunnelt. Wenn Sie eine private Meinung hören wollen: Lange geht das nicht mehr gut! Zur Zeit aber um so besser. Alles profitiert verhältnismäßig, wie es sich gehört. Die Ungleichheit wird sorgsam bewahrt wie nur je ein altes Fresko. Sonst kämen wir noch wohin. Das Klima bessert sich aber laufend, vor allem geistig. Es gibt tüchtige kleine Zeitungen voll fundiertem Protest. Und Jungwähler! Der Glaube an Gott schwindet, an seiner Stelle glaubt man an das Glück des Tüchtigen. Das Glück winkt und winkt, der Tüchtige schuftet sich kaputt. Ehe er sich's versieht, ist er mausetot und was hat er gehabt? Nichts. Das steht schon im Alten Testament. Das deutsche Kapital ernährt uns und sich von uns. Wir sehnen uns nach europäischer Gemeinschaft, die größer ist als eine bloß deutsche Gemeinheit.
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