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■ Auf 20 Milliarden Mark schätzt Günther Eichhorn, Leiter des staatlichen Komitees zur Auflösung des „Amtes für nationale Sicherheit“, den Wert der Häuser, Wohnungen, Grundstücke, Sport- und Freizeitanlagen. Die ursprünglich 186 Mitarbeiter des Komitees, darunter 71 frühere Angestellte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), werteten Hinweise aus der Bevölkerung und von MfS-Mitarbeitern sowie Dokumente aus. Für die in verschiedenen Listen zusammengestellten Objekte wurden Vorschläge für eine neue Nutzug gemacht und Kaufinteressenten gesucht. Staatlichen Institutionen übergab das Komitee die Gebäude und Wohnungen in der Regel kostenlos. Auflösung, Übergabe oder Verkauf der Stasi-Immobilien sind nicht abgeschlossen. Die taz hat die Liste mit derzeit 9.251 Adressen ehemaliger Stasi-Objekte entschlüsseln lassen. Jeder kann dem Dokument entnehmen, zu welchen Zwecken und von welcher Abteilung des MfS die einst konspirativen Wohnungen und Dienstobjekte genutzt wurden. Keiner der heutigen Nutzer

Es ist eng, im 10.Stock der Ostberliner Werner-Lamberz -Straße 4. Wenn die beiden Nachbarn gleichzeitig aus ihren über Eck liegenden Wohnungen treten und zur Treppe gehen, müßten sie zusammenstoßen. Das sei nie geschehen, brummelt der weißhaarige Herr K. Er habe die „jungen Männer“ selten gesehen. Wochenlang sei niemand in der Ein-Raum-Wohnung gewesen, hat Frau K. registriert. „Es waren nie dieselben da.“ Und überhaupt, „da war nie was Spektakuläres“, Herr K. tritt von einem Fuß auf den anderen, „wissen Se, ick drängel mir niemandem uff, solange sie mir zufrieden lassen.“

Eine Lebensphilosophie, die die K.'s nur mit den Achseln zucken läßt, als sie hören, daß ihre früheren Nachbarn in der konspirativen Wohnung „Urquell“ für die Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) „operativ tätig“ waren. Spitzelarbeit beim Militär. Das geht aus der bisher geheimen Computerliste aller Stasi-Objekte in der DDR hervor, von denen die taz willkürlich etwa 30 Adressen in Berlin und Bernau aufsuchte. Ergebnis: Bis auf eine Ausnahme erwies sich jede Anschrift als Volltreffer. So desinteressiert und ahnungslos wie die K.'s sich geben, sind nicht alle Mieter. Im Stockwerk unter der „Urquell„-Bude erhielt eine Familie vom „Hausbuchführer“ mal die Auskunft, „daß die Wohnung der Armee gehört“. Seither „wußten hier alle, daß da was Geheimnisvolles lief“.

Gestört haben die geheimnisvollen Vögel in keinem Hochhaus. Oft nisteten sie in den obersten Etagen oder im Dachgeschoß. In der Berliner Straße der Befreiung Nr.68, Wohnung 22.06 thronten sie über 21 Etagen, waren Männer der MfS-Abteilung 26 in der „Telefonüberwachung“ operativ tätig. Eine Eisentür versperrt das „Dachgeschoß. Unbefugten Zutritt verboten.“ Zwei andere Türen führen in die Lüftungszentrale und den elektrischen Betriebsraum. Unter dem Flurfenster liegt die halbe Stadt und die Lichtenberger Stasi-Bezirksverwaltung, seit April Herberge für sechzehn medizinische Einrichtungen. Deren Geschichte kennt jeder. Über das Geschehen auf dem Dachgeschoß „wurde gemunkelt“. Aber, so ein Mieter kopfschüttelnd, „hier hat doch niemand einen Überblick, wer da so rumläuft“.

Schade um die

schönen Vorträge

Das genaue Gegenteil behauptet Herr H. im ebenso großen Wohnregal, der Straße der Befreiung Nr.72. Vor allem kannte Herr H. als Mitglied der „Hausgemeinschaftsleitung“ den Herrn W. aus der Wohnung 9.01 in der neunten Etage „sehr gut und die ganzen acht Jahre bis zu seinem Auszug im März. Das war so ein netter Mensch, hat immer Feten mitorganisiert und schöne Vorträge über seine Reisen gehalten.“ Herr W. hat in einer Drei-Raum-Wohnung gelebt, die der operativ tätigen „Zentralen Koordinierungsgruppe“ gehörte, zuständig für Kontrolle und Koordinierung aller MfS-Mitarbeiter außerhalb der DDR mit dem Ministerium des Innern, Außenministerium, Paß- und Meldewesen. Ein Blick in die Liste überzeugt Herrn H. keineswegs. „Da hat der Computer einen Fehler gemacht. Ich leg‘ meine Hand dafür ins Feuer, hier war keine Stasi -Wohnung.“ Energisch wiederholt H.: „Hier nicht.“

In keinem der angrenzenden und weiter entfernten Hochhäuser mag jemand so entschieden wie Herr H. die Stasi -Nachbarschaft ausschließen. „Die saßen in jedem größeren Haus in Berlin“, heißt es fast gelangweilt in den neun Stockwerken der Löwenberger Straße 2-4. „Das hier war als Haus der Firma in der Umgebung bekannt“, sagt ein Ex -Mitarbeiter der „Firma“, während er bereitwillig zu einer Besichtigung seiner 24 Quadratmeter kleinen „Bucht“ einlädt: Naßzelle, Kochnische, Couch-Zimmer. Auf einem der linoleumblanken Flure mit jeweils vierzig Türen liegen drei konspirative Wohnungen nebeneinander. Das „konspirative Objekt Kloster“ wurde vom „Dienstleistungsamt für ausländische Vertretungen“ genutzt. Na und? „Hier gingen Botschaftsangehörige aus arabischen Staaten ein und aus“, erzählt eine Rentnerin, „für die und die Leute von der Armee und den Grenztruppen waren die Wohnungen ja ausreichend. Die wohnten ja nur vorübergehend hier.“ Für sie, die in der Löwenbergerstraße seit 24 Jahren lebt, „ist es doch ein bißchen klein und laut. Aber man kann sich ja nichts anderes leisten.“ Die Stasi soll hier gewirkt haben? „Naja, wir hatten so eine lange Antenne auf dem Dach“ - der Mast steht noch - „aber wissen Sie, wir haben jetzt wirklich andere Probleme.“

Ungehörig, sich nicht

zu verabschieden!

Mehr noch als in der Löwenberger Straße hat sich der gemeine Berliner in der Zwieseler Straße an die uniformierte Nachbarschaft gewöhnt. Gegenüber vom Panzer am Sowjetischen Museum stehen zwei Mehrfamilienhäuser, eines davon nutzten laut Liste die „Freunde“. Keine Namensschilder, tote Briefkästen. Wäsche im Garten deutet darauf hin, daß die „Freunde“ vom KGB hier noch leben. Nebenan läuft im Wohnzimmer ein US-Western über den Bildschirm. Der junge Familienvater spricht russisch wie die draußen herumlaufenden Militärs vor dem abgesperrten Gelände beiderseits der Zwieseler Straße. Zwischen den Mauern liegen die Hausnummern 7-19: vier Dienstobjekte, ein Wohnobjekt, zwei Sportgebäude für die Sowjets. Auf der anderen Seite des Areals erntet Herr B. seit Jahrzehnten zwischen zwei MfS -Häusern Äpfel und Birnen aus seinem Garten. Als der „Handwerker“ vor ein paar Monaten aus der jetzt leerstehenden Nr.33 auszog, „hat er sich nicht verabschiedet. Das fanden wir ungehörig“, kritisiert Herr B., dem es „schon immer etwas merkwürdig“ schien, daß der Nachbar im holzverkleideten Heim „mit Holzkohle gehandelt hat“. Aber, lacht der Greis, „die Stasi hat auch nicht im Kalten gelebt“. Sonderlich bemüht, Einzelheiten über die Arbeit des Nachbarn herauszufinden, war Herr B. nie. „Man ist ja nicht neugierig“, lautet sein Grundsatz, der Detailkenntnisse über Besitzverhältnisse, Mieterwechsel, baulichen Zustand und Renovierung der beiden angrenzenden Häuser einschließt.

Wissen Se, 'ne Wirtschaft

is das, nee!

Ein halbes Leben lang zwischen Stasi und Armee geschlafen hat auch das Ehepaar W. in Bernau, einer Kleinstadt, dreißig Kilometer nordöstlich von Berlin, kurz vor Wandlitz. Links neben dem Garten ihres Mietshauses die „Russenkaserne“ mit verfallenen Häusern; rechts aus dem Küchenfenster blicken die W.'s seit knapp dreißig Jahren auf einen grauen Block mit zwölf Stasi-Balkonen in der Heinersdorfer Straße 20/22. „Sehen Se mal“, Frau W. zieht die Lockenwickler aus dem schütteren Haar, „wir ham so schöne Rosen im Vorgarten, immer den Maschenzaun neu jemacht und den Weg geharkt und die da?“, ein böser Blick straft verbeulte Stasi-Mülltonnen auf der anderen Straßenseite, „die lassen die Straße zuwachsen, ham keene einzige Blume gepflanzt, und denn der rostige Zaun!“. Obwohl es „ne Wirtschaft is da drüben“, schätzen die Rentner gewisse Vorteile in ihrem engsten Umkreis. Während Frau W. rote Sandaletten überstreift und für den Rundgang mit der Besucherin durch das „Russenviertel“ Parfüm hinter die Ohrläppchen tupft, nennt ihr Mann den wichtigsten Vorteil: „Ick sach immer, die Russen ham uffjepaßt, daß bei uns noch nie injebrochen oder wat jeklaut worden ist.“ Das zählt. Die W.'s wollten nie viel mehr „als unsere Ruhe“. Ob jemand in das Stasi-Haus jüngst eingezogen ist, hat das Paar nicht beobachtet. „Wer will da ooch rin, gibt ja Schöneres.“ Bonzen dürften in dem Schlicht-Klotz, der vor einiger Zeit von dem VEB Gebäudewirtschaft übernommen wurde, nicht gewohnt haben.

Die ham ooch nur

ihre Arbeit getan!

Kleine und große Stasi-Fürsten ließen sich gern in Bernau nieder. Zwar war das Bernauer MfS-„Waldbad“ am Liepnitzsee laut Schwimmeister dem „inneren und äußeren Ring der Wandlitzsiedlung vorbehalten“. Doch das MfS ließ sich mit Ein-, Zweifamilien- und Reihenhäusern für seine Angestellten nicht lumpen. Anders als in der Anonymität der Metropole Berlin wußten die zivilen Mitmenschen in der Provinz haargenau, wer da jeweils ein- und ausging. Auffallend oft indes wehren Nachbarn Fragen ab. „Lassen Sie mich in Ruhe!“

Die Vergangenheit „in Ruhe lassen“, ist auch am Stadtrand von Bernau, der „besseren Gegend“, eines der obersten Gebote. Unruhig auf dem Gartenstuhl hin- und herrutschend, verlangt Frau B.: „Wir können, das was gewesen ist, nicht immer wieder aufwälzen. Irgendwann muß Schluß sein. Jetzt wollen wir nach vorn blicken.“ Schließlich hat der Herr Schilling, bis Dezember wohnhaft auf dem angrenzenden Grundstück Im Blumenhag 54, „auch nur seine Arbeit getan“. Schilling, dessen Vater in Honeckers Ministerrat einen Posten hatte, zog vor Jahren in die weiße MfS-Villa mit großem Garten. „Wir hatten guten Kontakt, es waren so nette Leute“, sagt Frau B. Mit einem Anflug von Trauer in der Stimme. „Daß er bei der Stasi gearbeitet hat, haben wir uns gedacht. Der Vorgänger, dieser hochnäsige Hermann, war's ja auch. Aber geredet haben wir darüber nie.“ Warum nicht? Ein staunender Blick trifft die Fremde: „Man fragt doch nicht, was die Männer machen.“ Natürlich „hat man eine Wut auf die Stasi gehabt, aber Herr Schilling hat doch nur seine Arbeit gemacht“. Deshalb hat die Familie Frau B. leid getan, als die die Möbel packen mußte. Wenige Tage später, kurz vor Weihnachten, zog ein Professor aus dem Klinikum Buch mit Frau und Kind ein. „Vielleicht stand es denen zu“, spekuliert die Nachbarin.

Wissen Se, früher war's

fast schöner hier!

Auch in der Tobias-Seiler-Straße herrschte nach Auflösung des „Kader-Objektes“ keineswegs große Freude. Versteckt hinter hohen Rosen und Sträuchern wohnte hier im Haus Nr. 30/32 MfS-General Gold. Als der „berühmte“ Frührentner das für ihn gebaute Haus Ende der siebziger Jahre einrichten ließ, ging es aufwärts in der Siedlung. „Wir haben damals Stadtgas gekriegt“, erinnert sich die Familie von gegenüber, „einige bekamen sogar Telefon und die Armee hat mit eenmal die Straße betoniert.“ Das verbindet. General Gold und sein Hausmeister „hielten das Grundstück schnieke“, doch „irgendwie hat's ihm nicht gefallen“. Nach zwei Jahren „ist er zurück nach Berlin in eine Komfortwohnung“. Seither sei das Haus ein „Schulungsheim“ gewesen. Alle zwei bis drei Wochen kamen einige Männer. „Die Herren waren so nett und so schön ruhig.“ Als die Stasi im letzten Winter „tagelang kartonweise Aktenberge wegfuhr“, schrieben die Nachbarn an das Bürgerkomitee, „aber da war wohl schon alles am Laufen“. Nun lebt und arbeitet der stadtbekannte Kleinunternehmer P. mit seinem Schlüsseldienst hinter den Rosenbüschen. „Eigentlich schade“, seufzt die Anwohnerin, denn P. hat „viele Westkontakte und drüben Geschäftspartner. Die bringen mit ihren Autos Unruhe in die Straße.“ Das Leben mit den Stasi-Nachbarn war eben „fast schöner“.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb General Golds Gegenüber nicht gegen die Firma Horch, Guck und Greif demonstrierten, als dies landesweit üblich und ohne Heldenmut möglich war. Klar, auch in Bernau protestierten die Menschen im Herbst per pedes. Nie indes führte der Marsch in die stadtbekannte Stasi-Siedlung „Zickzackhausen“ an der Zepernicker Chaussee. Links und rechts der Chaussee, zickzackförmig angeordnet lagen weit über hundert Reihenhäuser für Stasi-Mitarbeiter (hier unterschlägt die Computerliste mehrere MfS-Straßenzüge). Für die Kollegen in den sechs neuen Wohnblocks dahinter - der Elektriker schickte die Rechnung immer direkt in die Berliner MfS -Zentrale - wurde eine eigene Buslinie eingerichtet. Über Schwierigkeiten mit der Bevölkerung können die Bewohner von Zickzackhausen nicht klagen. Sie erinnern sich nur daran, daß „es vor sechzehn Jahren als wir in unsere Häuser zogen, Neid und Mißgunst gab. Jeder wußte ja, für wen die Siedlung gebaut wurde.“ Danach, so eine frühere Stasi -Krankenschwester, „war hier immer alles ruhig“. Die männlichen und weiblichen Hauptmänner und Majore machten es sich schön. Stolz schweift der Arm der Krankenschwester über gepflegte Vorgärten und Blumenrabatten vor den jetzt der Kommunalen Wohnungsverwaltung gehörenden Häusern: „Wir haben die Grünanlagen in Ordnung gehalten. In militärischen Organen herrscht ja Zucht und Ordnung.“ Unruhe in der Siedlung verbreitete sich nur einmal. Für den 9.November 1989 hatten die Bernauer BürgerrechtlerInnen eine Demonstration nach Zickzackhausen angekündigt. Abends gluckten die Stasisten in den Wohnzimmern zusammen, berieten, was sie tun sollten. Draußen blieb es still. „Die kamen einfach nicht“, erzählt die Krankenschwester, „erst dachten wir, daß es zu kalt sei. Aber dann sagten sie im Fernsehen, daß die Grenze geöffnet sei.“ Da zog es die Bernauer nach West-Berlin und nicht mehr in die Stasi -Siedlung.

Petra Bornhöft