: Inkontinenz als Waffe
■ Etienne Chatiliez‘ „Tante Daniele“, ein Film für jung und alt
Odile ist tot. Im Alter von 75 Jahren war sie auf eine wacklige Leiter gestiegen, um den Kronleuchter ihrer Herrin Daniele zu putzen. Daniele hatte sie hinaufgetrieben. Der Kronleuchter hing nicht sehr fest, Odile konnte sich nicht halten. „Wie kann man nur so ungeschickt sein!“, schickt Daniele ihr noch nach. Jahrzehntelang hatte sie Odiele schikanieren müssen, bis es soweit war - sie hatte niemand anderen: Ihr Gatte, ein Oberst, war am Tag des Waffenstillstands 1918 gestorben. So blieb ihr nur die herzensgute Odile, die arme Verwandte, die sie versorgte. Daniele schickte sie einkaufen mit ihrem Riesenhund namens Garde a vous, der mit Vorliebe schwarze Postboten anfiel und viel zu stark war für Odile; wie aus Versehen zertrampelte Daniele Odiles frischgepflanzte Stiefmütterchen; angeekelt wies sie Odiles dampfende Krautwickel zurück und naschte heimlich Pralinen; nachts scheuchte sie Odile aus dem Bett, daß sie ihr ein Glas Wasser brachte; sie stahl Odiles Haushaltsgeld, um sie selbst des Diebstahls zu bezichtigen. Danieles Haß war grenzenlos, aber Odile war im Grunde kein würdiges Objekt, sie war zu alt.
Tante Daniele braucht ein neues Aufgabenfeld und findet es in Paris, bei ihren letzten Verwandten, der Familie ihres dicklichen Großneffen Jean-Pierre Billard, Informatiker, und seiner Frau Catherine, die im 15.Arrondissement einen Kosmetiksalon betreibt und hinreißende Sätze sagt wie „Der Po ist Ihre Problemzone“, „die Alpen waren mein Schicksal“ oder „ich habe mir eine Maske gegönnt“, wirklich nette Leute also, mit zwei wohlgeratenen Söhnen, Jean-Pierre, 16, und Totoff, 8. Daniele besticht sie mit einer Vorauszahlung aufs Erbe. Sie wird bei den Billards aufgenommen.
Etienne Chatiliez (Das Leben ist ein langer ruhiger Fluß) war früher Werbefilmer und weiß, wie prägend dieses Medium ist. Die Billards führen ein Leben wie in der Jacobs -Kaffee-Reklame mit pastellgelben Tapeten, Frauenzeitschriften, Videoclips und Mikrowelle, eine herzinnige Idylle, die vor allem eins verdrängt: den Tod, als dessen Engel Daniele nun wütet. Sie rächt sich bei der Jugend dafür, daß sie allein wird sterben müssen. Ihr ist klar, daß die Billards sie nur deshalb so liebevoll behandeln, weil sie diese Perspektive, die ihnen schließlich auch selber blüht, nicht aushalten. Daniele ist die Klügere. Sie durchschaut als einzige, daß Jean-Marie schwul ist und nennt ihn Jeanne, den altklugen und aufdringlichen kleinen Totoff läßt sie verzweifelt schluchzend auf dem Spielplatz allein, für den uralten Cockerspaniel der Famile hat sie stets einen kleinen Seitentritt bereit. Sie verweigert die Nahrungsaufnahme und bettelt um Essen, wenn Besuch im Hause ist. Sie macht ins Bett und stinkt nach Urin. Virtuos spielt sie mit der Angst der auf die Fassade bedachten französischen Kleinfamilie vor allen Peinlichkeiten. Vollkommen zermürbt fahren die Billards in den Club -Mediterranee-Urlaub nach Griechenland. Daniele lassen sie mit der eigens engagierten Krankenpflegerin Sandrine in Paris zurück.
Die ist anders. Als sie zum dritten Mal eine Lache in Danieles Bett findet und der Schikane auf die Schliche kommt, versetzt sie ihr eine Ohrfeige. „Heul nur, dann pißt du weniger“, schreit sie der vollkommen Fassungslosen ins Gesicht. Die beiden freunden sich an. Sie machen eine kleine Reise in die Provinz, nicht ohne zuvor den Cockerspaniel auf den Champs Elysees auszusetzen. Die Billards erwartet bei ihrer Rückkunft ein Bild des Grauens.
thc
Etienne Chatiliez: Tanta Daniele. Drehbuch: Florence Quentin, Kamera: Philippe Welt. Mit Tsilla Chelton, Neige Dolsky, Catherine Jacob, Eric Prat u.a., Frankreich 1990, 110 Min.
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