: Klassengesellschaft der Tiere
■ Die Tierfotos Friedrich Seidenstückers in der Galerie Berinson
Dünn ist es, daß die Rippen durch das Fell staken, und seine Ohren sind riesig groß. Es steht auf seinen Hinterbeinen und windet sich. Am liebsten würde es sich aus dem Staub machen, aber das geht nicht. Die kräftige Hand eines Pferdepflegers hat das Fohlen an der Schulter gepackt, und sein gamaschenbewehrtes Bein drückt den ganzen Vorderleib des Pferdekindes unter die Menschenachsel. Der Unmut des Kleinen scheint den Mann zu amüsieren. Er grinst ein bißchen bei seiner Anstrengung, und die Kippe hängt schräg zwischen seinen Lippen. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht, also hat er seine Mütze nach hinten geschoben, damit es nicht so warm darunter ist.
Das Fohlen bräuchte sich nicht zu beschweren. Es geht ihm gut. Wenn nichts dazwischenkommt, wird es einmal so glänzend und prall aussehen wie das ausgewachsene Vollblut im Hintergrund. Wenn Pferde je jammerten - der Karrengaul hätte mehr Grund. Sein struppiger Hals mit dem müden Kopf lugt unter einer Wetterschutzdecke hervor, der Futternapf baumelt im Genick. Bald geht die Fahrt weiter, vielleicht zu einem Lager oder einer Schrotthandlung. Das Straßenpflaster, auf dem der Gaul haltgemacht hat, ist nicht vom Feinsten.
Die Galerie Berinson stellt Tierfotos des Berliner Fotografen Friedrich Seidenstücker aus. Dabei wiederholt sie im kleinen die Angewohnheit, die im Faltblatt zur Ausstellung im großen kritisiert wird: „Der nach seinem Tode gepflegte Umgang mit seinen Bildern ist eher ein bürokratischer. Es entstanden zumeist Inventare unter nostalgischer Sicht auf die abgebildeten Dinge und Situationen: Handwerker zu Handwerkern, Tiere zu Tieren, Mädchen zu Frauen, entsprechend dem Wiederaufbau der allgemeinen Einteilung.“ Bei Berinson hängen Hunde neben Hunden, Vögel neben Vögeln, Schweine neben Schweinen. Dabei tun sich unfreiwillig Klassenunterschiede auf. So wie eben beschrieben; bei den Hunden ist es noch deutlicher, der räudige Köter muß den Karren ziehen, der Schoßhund aalt sich auf bürgerlichen Kissen.
Zur Tierfotografie kam Friedrich Seidenstücker ein wenig umständlich. In Berlin studierte der gebürtige Westfale Maschinenbau und besuchte gleichzeitig die Bildhauerateliers der Hochschule, wo er begann, Tiere zu zeichnen und zu modellieren. Die ersten Tierfotos machte Seidenstücker im Berliner Zoo. Sie dienten ihm als Vorstudien zu seinen Plastiken. War die Fotografie zunächst Geldquelle für seine Bildhauerei, beschloß Seidenstücker 1930, sich ihr ganz zu widmen. Er vertrieb seine Tierfotos über Bildagenturen - sie erschienen in zahlreichen Illustrierten - und im Zoo selbst. 1933 stellte er den Verkauf im Tierpark ein.
„Statt dessen erschienen Seidenstücker-Photographien in Photozeitschriften und Illustrierten nur noch als unverfängliche Bildwitze. Es ist diese Rezeption, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine wirkliche Neubewertung des Photographen Friedrich Seidenstücker verhindert“, schreibt Werner Kourist, Zoohistoriker, in dem 1986 im Nishen-Verlag erschienenen Fotoband zu Seidenstücker. „1945 dokumentiert Seidenstücker in umfangreichen Bildserien die Zerstörung Berlins und ganz besonders die Ruinen des Berliner Zoos. Da sich solche ernsten Bilder als unverkäuflich erweisen, etabliert sich Seidenstücker aufs neue als Genrephotograph eines sogenannten 'Berliner Humors‘.“
Dabei sind Seidenstückers Tierfotos so lustig nun nicht. Auch wenn er über sich selbst schrieb, daß er humoristische Aufnahmen von Mensch und Tier sehr liebe. Der Witz hängt davon ab, wieviel Menschliches der Blick in die Aufnahmen hineintransportiert. Seidenstücker hat diesen Blick gar nicht so oft gehabt. Neben kuscheligen Katzen und Eisbären fotografierte er genauso Kaulquappen, Turmfalkennester, Käferlöcher, überfahrene Waldmäuse, Maikäferplagen oder tote Dohlen. Sein Interesse war sachlicher Natur: Seine „Charakteristik der Wanderfalkenrupfstellen“, eine Bildserie über Greifvögel, ist eine betont hölzerne Auflistung der Jagd- und Nestbaugewohnheiten einheimischer Raubvögel. Von den Störchen behauptet Seidenstücker zwar, daß sie „ein langweiliges, fast spießiges Behagen“ zur Schau tragen. Wichtiger aber ist: „Ihren Beinahmen (sic!) 'Klapperstörche‘ haben diese Tiere natürlich vom Klappern, nicht vom Kinderbringen. Wie man eigentlich auf dieses Märchen gekommen ist, verstehe ich selbst nicht, denn die Störche bringen die Frösche nicht etwa zappelnd an einem Bein im Schnabel zum Nest, sondern in großen Mengen im Schlund verschlungen, die sie den Jungen vorwürgen.“
Seidenstücker hält die Tiere in ihrem Alltag fest wie die Menschen in den Straßen (sieht man von seinen schwülstigen Aktfotos der dreißiger und vierziger Jahre ab). Dabei bevorzugt er bescheidene und unauffällige Apparate: „(...) ich war immer Momentknipser (...). Mir war es wichtig, heimlich und unbekannt Aufnahmen zu schießen.“ Deshalb wird den Dingen des Lebens auch nicht durch ein mit technischem Raffinement hergestelltes Pathos jene besondere Aura des Alltäglichen verliehen, Seidenstückers Welt bleibt wirklich alltäglich.
Seidenstücker erlebte nur eine Ausstellung seiner Arbeiten. Erst nach seinem Tod wurden sie Muß-Repertoire, und in den Bänden mit Fotos der zwanziger Jahre erhielten sie einen Stammplatz. In der Galerie Berinson sind nun für diejenigen, die mit Tieren nicht soviel anzufangen wissen, die Details der Zeit interessant: Der seltsam gemusterte Schuh einer Dame, auf die eine Unzahl Dackel zugaloppieren; der junge Mann mit dem borstigen Schal, der neben seinem Braunbär auf dem Bordstein hockt; der passende Korbstuhl zum passenden Hundeschaubesucher. Widerhaken finden sich aber nur in dem Band des Nishen-Verlags, der ansonsten mit der Ausstellung ziemlich identisch ist: Zum Beispiel wird die Idylle, in der drei kleine Jungs im Mecklenburgischen Junggänse hüten, noch nicht einmal durch die Kriegshefte in Frakturschrift getrübt, über die sie ihre Scheitel beugen.
Claudia Wahjudi
Bis 31. August in der Giesebrechtstraße 3, Berlin 12. Di. bis Fr. von 14 bis 19, Sa. von 11 bis 15 Uhr.
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