Ein Parlament im Endspurt und in Endzeitstimmung

■ Die Berliner Parlamente vor der Einheit/ Im Abgeordnetenhaus wird nur noch stehend abgestimmt/ Ohne Kameras keine großen Reden

Berlin. In der Zeit inflationärer »historischer« Daten war gestern ein weiteres zu verbuchen: Zum letzten Mal vor der Einheit tagte das Westberliner Abgeordnetenhaus, zum letzten Mal in seiner vierzigjährigen Geschichte wurden dort förmlich Bundesgesetze übernommen. Mit der Herstellung der Einheit und dem Erlöschen des Viermächtestatus am 3. Oktober müssen Bundesgesetze in West-Berlin nicht mehr extra in Kraft gesetzt werden.

Der Anlaß war dem Präsidenten des Hohen Hauses, Wohlrabe, ein paar feierliche Worte wert, ansonsten herrschte Endzeitstimmung. Tagesordnungen für die Sitzungen werden ähnlich wie im Ostteil der Stadt erst kurz vor Beginn des Plenums erstellt, aktuelle Stunden gehören der Vergangenheit an. Auf dem Programm steht seit mehreren Wochen ein wahrer legislativer Marathon: Die »Altlasten« von Rot-Grün sollen noch als Gesetze in Kraft treten, ehe nach dem Vereinigungstag in der Stadt eine Dreiparteienkoalition aus SPD, CDU und AL herrscht. So waren gestern insgesamt zwanzig Gesetze in erster, zweiter oder dritter Lesung zu behandeln.

Das parlamentarische Ritual ist so gut wie zum Erliegen gekommen, da sich kaum noch eine Fernsehkamera in den Gesetzgebungsdschungel verirrt. Große Reden verlieren da ihren Reiz. Lieber sitzt man im Kasino herum oder entschwindet gleich ins Büro. Abgestimmt wird formlos, im Stehen, wenn das Klingelzeichen die Abgeordneten ins Plenum treibt. Letzter Punkt bei den zweiten Lesungen: das sogenannte Mantelgesetz, das regelt, daß nach dem 3.10. fast alle Westberliner Gesetze auch im Ostteil gelten. Die Stadtverordnetenversammlung, die bereits am Mittwoch ihre letzte Sitzung abhielt, hat dieses Gesetz spät in der Nacht angenommen. Auch die Sitzung des Westberliner Parlaments zog sich bis in den späten Abend hin.

Nach dem 3.10. wird es in Berlin weiterhin zwei Stadtparlamente geben. Die rot-grüne Koalition hat mit Rücksicht auf die Brüder und Schwestern darauf verzichtet, sämtliche Verfassungsorgane im Ostteil zu suspendieren. Die Stadt wird ab nächster Woche von einem Dreiparteien-Kollegialorgan namens Magi- Senat regiert — das faktisch schon seit längerer Zeit existiert. Stadträte Ost und Senatoren West bleiben aber weiterhin ihren Parlamenten verantwortlich. Wegen der Wahlen am 2. Dezember müssen sie Ende Oktober ihre Sitzungen einstellen, bis dahin aber weiter ihre gesetzgeberischen Aufgaben wahrnehmen. Um großes Durcheinander zu verhindern, sollen sie möglichst gleichlautende Beschlüsse fassen.

Die Zeit des Übergangs endet erst mit der konstituierenden Sitzung des Gesamtberliner Parlaments, die für den 11. Januar 1991 anberaumt worden ist. Die über 200 Abgeordneten werden sich dann erst einmal noch im Rathaus Schöneberg tummeln müssen, dessen Plenarsaal eilig umgebaut werden soll. Als neues dauerhaftes Domizil soll am 1. September 1992 der ehemalige Preußische Landtag bezogen werden — unter dem Vorbehalt, daß die gesamtdeutsche Regierung zustimmt. Wo die neue Berliner Landesregierung ihren Geschäften nachgehen wird, ist auch noch unklar: Angestammter Stadtregierungssitz ist das Rote Rathaus, in dem derzeit die Umbauarbeiten auf Hochtouren laufen. Ob es aber bis zur Regierungsbildung Anfang nächsten Jahres westlichen Ansprüchen genügen wird, bleibt abzuwarten. Die Zeit des Übergangs geht weiter ... Kordula Doerfler