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„Sozialismus stalinistisch verzerrt“?

Wolfgang Thierse beschäftigte sich auf dem SPD-Parteitag mit Grundsätzlichem/ Willy Brandt erinnerte an die historische Stunde und Hans-Jochen Vogel wünschte Oskar Lafontaine viel Erfolg  ■ Aus Berlin Tina Stadlmayer

Die einzig wirklich interessante Rede auf dem Parteitag der gestern vereinigten Sozialdemokraten hielten weder der Ehrenvorsitzende Willy Brandt noch der Gesamtvorsitzende Hans Jochen Vogel. Es war der Ost-Elbier (nennt sich selbst so) Wolfgang Thierse, dem es gelang, die Zuhörer zu fesseln.

Weniger feierlich aber dafür umso klarer nannte er Gefahren und Chancen der Vereinigung von Ost und West. „Spielt euch jetzt nicht auf wie Sieger, ihr Westdeutschen“, rief er seinen Parteifreunden zu. Und: „Wir sind nicht die deutschen Kolonien sondern ein Teil der Deutschen Bundesrepublik.“ Ein Interessenausgleich und bessrere Verständigung zwischen „Ossis und Wessis“ stünde jetzt auf der Tagesordnung. Nach dem unvermeidlichen Plädoyer für Berlin als Regierungshauptstadt berichtete Thierse von seinen Schwierigkeiten mit dem Begriff des Demokratischen Sozialismus: „Mir geht die alte Frage Ernst Blochs nicht aus dem Sinn: Hat der Stalinismus den Sozialismus verzerrt oder zur Kenntlichkeit gebracht?“ Fest stehe für ihn, daß „die Verwirklichungsgeschichte der sozialistischen Theorien diese selber nicht in jungfäulichem Stand belassen“ könne.

Nach diesem Exkurs ins Grundsätzliche wandte er sich den tagespolitischen Forderungen zu, sandte einen „Gruß“ an die Besetzer und Hungerstreikenden in der Stasi-Zentrale. „Die Opfer der Staatssicherheit haben eine Anrecht auf Wiedergutmachung, die Täter ein Anrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren“ forderte Thierse. Wichtig sei es jetzt vor allen Dingen „Keine Dauer- oder Massenarbeitslosikgkeit zuzulassen“. Außerdem müßten der Industriestandort DDR verteidigt und zukunftsorientierte Arbeitsplätze geschaffen werden. Für Rentner und Mieter sollten auf dem Gebiet der DDR Sonderregelungen, also dynamisierte Mindestrenten und Preisbindung, gelten.

Zu Beginn des Tages, an dem Sozialdemokraten der östlichen und westlichen Bundesländer zum ersten Mal gemeinsam zusammensaßen, erinnerte der Ehrenvorsitzende Willy Brandt noch einmal an die historische Bedeutung der Stunde: „Wir alle werden sagen können: Ja, wir sind dabei gewesen.“ Jetzt sei es an der Zeit, „mehr als bisher zu tun für die Verdammten dieser Erde“. Gemeinsam gelte es jetzt „Not zu beheben und zu helfen.“ Mit leiser Stimme bat er die Delegierten sich zu erheben und der „Opfer der Geschichte zu gedenken“. Unter den Opfern seien viele Sozialdemokraten gewesen, die „eingekerkert, verschleppt und gepeinigt wurden.“ Was Naziherrschaft, Krieg und Rassismus über die Menschen gebracht hätten, dürfe nicht vergessen werden.

Für den deutschen Einigungsprozeß habe er sich „Mehr Behutsamkeit“ gewünscht, fuhr Willy Brandt fort, aber er wisse auch: „Auf dünnem Eis darf man nicht zu langsam gehen.“ Jetzt komme es darauf an, die Kosten sozial gerecht zu verteilen. Denn: „Wenn der Zug der Einheit rollt, darf niemand im Übereifer unter die Räder kommen.“ Stürmischen Beifall erhielt Brandt, als er die Ost-Sozialdemokraten dafür lobte, die DDR „im Widerstand zur SED und zu den Blockparteien zum Besseren gewendet zu haben.“ Die „alten Sozialdemokraten“ forderte er auf: „Ihr könnt aufrechten Ganges zu uns kommen.“ Er bezeichnete es als Heuchelei, an diejenigen, die zur Einheitspartei gegangen seien, „strengere Maßstäbe anzulegen“ als an die Mitglieder der Blockparteien“. Er sei gefragt worden, ob er auch etwas zur Hauptstadtfrage sagen wolle, erzählte Brandt in geqältem Tonfall. Er weigerte sich jedoch, deutlich Stellung zu beziehen: Hier in Berlin „wurde der kommunistische Würgegriff abgewehrt, akute Kriegsgefahr abgewendet und der Weg zur Deutschen Einheit beschritten“, rief er den Delegierten zu. Fest stehe, daß Berlin die Hauptstadt der Deutschen sei, was das allerdings „über das Symbolische hinaus“ bedeute, müsse „fair gegenüber Berlin und fair gegenüber Bonn“ geklärt werden. Knallhart behauptete dagegen der Ostberliner Bürgermeister Tino Schwierzina in seiner Rede: „eine Hauptstadt Berlin ohne Parlament und Regierung ist eine Mogelpackung“. Die Beteiligung des Ostens an den zentralen Funktionen des Staates sei notwendig. Das bedeute, daß die östlichen Länder nicht in einem der reichsten Bundesländer, nämlich Nordrhein-Westfalen, vertreten werden dürften.

Auch Hans-Jochen Vogel, der seit gestern erster Vorsitzender der gesamtdeutschen SPD ist, ließ es sich nicht nehmen, eine lange Rede vor den Delegierten aus Ost und West zu halten. Obwohl das Wort „Genossen“ in der DDR „lange Zeit mißbraucht“ worden sei, rief er den Ossis zu: „Ich heiße Euch als unsere Genossen willkommen.“ Der Begriff sei schließlich „in der Geschichte unserer partei verwurzelt“ und bedeute „Gefährte und Gleichgestellter“. Die Ost-Sozialdemokraten kämen nicht „mit leeren Händen“ aber sie brächten „im Gegensatz zu den Blockparteien“ kein Vermögen mit, scherzte der Vorsitzende: „Aber das ist gut so, denn die anderen müssen sich dieser Mitgift schämen.“ Hans Jochen Vogel gab sich vom Erfolg Oskar Lafontaines bei den Wahlen im Dezember überzeugt. Denn Oskar stehe für eine Politik der „Nüchternheit und Ehrlichkeit“ und damit im Gegensatz zu „volltönenden Versprechungen und pathetischer Provinzialität“ des amtierenden Bundeskanzlers.

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