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Realpolitische Piraterie

Zur vorläufig letzten TV-Sendung vom Leipziger Kanal-X  ■ Von Dorothee Wenner

„Das soll kein Promi-Schuppen werden!“, so Redakteur Joerg Seyde zum gastfreundlichen Konzept der vorerst letzten Sendung von Kanal-X. Der mittlerweile landesweit berühmte Piraten-TV-Sender will am Dienstag, dem 2.Oktober um 20 Uhr auf Kanal 35 noch einmal — vor Inkrafttreten des bundesdeutschen Mediengesetzes in der DDR — die Leipziger mit bürgernahem nicht- kommerziellem Lokalfernsehen versorgen. Während der zwei Stunden Sendezeit steht das Studio im „Haus der Demokratie“ allen offen, die den denkwürdigen Abend vor der Kamera oder auch per Telefon (041/328229) kommentieren wollen. Mit Live-Schaltungen werden sich andere Kanal-X-Redakteure von den einzelnen Veranstaltungen in Leipzig melden und den Daheimgebliebenen sagen, wo sie später noch hingehen könnten — oder ob sie lieber zu Hause bleiben sollen. Schon fast traditionsgemäß (Kanal-X gibt es seit dem 17.März!) wird über alle möglichen Hoch- und Sub-Kulturereignisse in Leipzig berichtet, unter anderem über den Besuch von Lea Rosh. Die Journalistin war einer Einladung von Kanal-X zur Lesung und Diskussion über ihr Buch Der Tod ist ein Meister aus Deutschland gefolgt. Anläßlich des historischen Sendetermins werden auch ein paar Minuten nostalgische Kunst ausgestrahlt, ein Video über die wunderschönen Leuchtreklamen, die nach wie vor mit still-buntem Trotz für die 'Neue Zeit‘ und andere Relikte des untergehenden Staates im Leipziger Nachthimmel werben. Als ewiger Abspann dürfte dann am Ende der Sendung, wenn die Antenne zusammen mit der Piratenflagge vom Dach geholt wird, das meditative Rauschen den Kanal 35 zurückerobern.

Bis zum 3.Oktober war „TV- Piraterie“ in der DDR zwar nicht erlaubt, aber irgendwie auch nicht im Bereich des Denkbaren oder Vorgesehenen, zumindest, was die entsprechenden Gesetze betrifft. Und so wurden die TV-Aktivitäten von Kanal-X juristisch nur geduldet, politisch aber — im Sinne einer Forderung nach Regional- und Lokalfernsehen für die Länder der DDR — von allen Parteien unterstützt. Kanal-X kann nach der vollzogenen Vereinigung zwar nicht so weiterarbeiten wie bisher, denn dann würde wahrscheinlich die (geliehene) Sendeanlage konfisziert, schlimmstenfalls müßten die Redakteure sogar mit Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren rechnen. Aber der Ausweg in die Legalität wurde vorsorglich geebnet: Sachsen hat als erstes Land der DDR bereits jetzt die Vorlage für ein neues Landesmediengesetz ausgearbeitet. Diese Tatsache darf in einen engen Zusammenhang mit der Existenz von Kanal-X und den Off-screen- Aktivitäten einzelner Redakteure gebracht werden. Sollte das Gesetz in der jetzigen Form verabschiedet werden (die Chancen stehen angeblich nicht schlecht), könnten die Leipziger TV-Piraten sehr bald Anspruch auf einen legalen Sendeplatz mit redaktioneller Eigenverantwortung geltend machen. Zugleich würden die anderen Fernsehanstalten bei ihrem Einzug in Leipzig regionale Eigenarten, insbesondere vorbeugende Maßnahmen gegen Gleichschaltungen entdecken...

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