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Umdenken für den Prüfungsausschuß

Für Ostberliner RichterInnen haben Fortbildungskurse begonnen/ Nach 150 Doppelstunden sollen sie fit sein im bundesdeutschen Recht  ■ Von Karin Mayer

Wenige Minuten nach Vorlesungsbeginn holt Sabine Plehn die Berliner Zeitung aus der Tasche und legt sie so dezent wie möglich neben sich. Der grauhaarige Dozent am Kopf des großen Plenarsaals im ehemaligen Stadtgericht Littenstraße spricht über das Verhältnis von Bund und Ländern und deren Gesetzgebungskompetenzen. Ein kreisrunder heller Fleck an der Wand hinter ihm — das Abbild des ausgedienten Staatswappens.

Der dritte Unterrichtstag des Fortbildungskurses B5 für Ostberliner RichterInnen hat begonnen. Insgesamt 13 Kurse bietet die Senatsverwaltung für Justiz derzeit an. 150 Doppelstunden: ein kurzer Rundumschlag ums Grundgesetz und Bürgerliche Gesetzbuch. Acht bis neun Jahre Zeit brauchen bundesdeutsche JurastudentInnen dafür. Weiße Taschenbuchausgaben liegen überall auf den Tischen.

Aber reichen 150 Doppelstunden aus? Nicht nur neues Wissen, ein neues Rechtsverständnis ist gefragt, RichterInnen aus der DDR sind — mehr als andere Berufsgruppen — zum Umdenken aufgefordert. Gefragt ist, was sich in Prüfungen schwer abfragen läßt.

„Völlig neu ist mir das nicht, was wir hier hören,“ sagt Sabine Plehn, die 15 Jahre lang Richterin war. Im vierjährigen Jura-Studium hat sie auch obligatorisch Bürgerliches Recht gehört. Erst 1976 wurde das einfachere Zivilgesetzbuch eingeführt. „Im Jugendstrafrecht, in dem ich arbeiten möchte, werde ich einiges lernen müssen. Aber ich fürchte, daß die uns kein Strafrecht mehr sprechen lassen“, meint sie pessimistisch. Die gute Stimmung in den Pausen der Fortbildung sei aufgetragen. Unsicherheit zehre an den Gemütern. „Die drücken das alle weg. Ich seh' das an den Augen.“ Seit dem 3. Oktober sind Ostberliner RichterInnen im Wartestand. Wer vom RichterInnenwahlausschuß bestätigt wird, soll während der drei bis fünfjährigen Probezeit als beisitzende, sogenannte KollegialrichterIn eingesetzt werden. So plant es Justizsenatorin Jutta Limbach.

Weisungen von oben habe sie nicht erhalten, meint Sabine Plehn. Natürlich war die höchstrichterliche Rechtssprechung bindend. „Aber jetzt gibt es doch auch das Bundesverfassungsgericht“, wirft sie ein. Daß die Anleitung aus dem Obersten Gericht eigentlich von Partei und Regierung stammte, steht für sie auf einem anderen Blatt.

Für West-JuristInnen ist damit bewiesen, daß das Rechtsverständnis in Ost-Richterköpfen nicht vorhanden ist. Richterliche Unabhängigkeit und dritte Gewalt fehlten in der DDR, Klagen gegen den Staat waren nicht denkbar und gegen Verwaltungsentscheidungen nicht möglich.

„Die sozialistische Rechtsprechung ist Ausdrucksmittel und Bestandteil der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht,“ schrieb der erste frei gewählte Justizminister der DDR, Kurt Wünsche, in einem seiner Lehrbücher. Auch Uwe Langhammer, Sprecher des Richterbundes in der Ex-DDR, sagt inzwischen von sich, er sei „mit der Masse mitgeschwommen“. Jetzt sieht er, nach welchen Kriterien er erzogen wurde. „Verlogenheit, nur um das System zu erhalten“, sagt Langhammer voller Wut auf sich selbst, weil er das nicht früher erkannt hat. Hinter der „großen politischen Linie“ hat er gestanden — wie alle Richter. „Wer sich dagegen gewandt hat, setzte seinen Beruf und seine Existenz aufs Spiel“, keine Entschuldigung, so betont Langhammer. Seit 1985 Gorbatschow an die Macht kam, seien die inneren Widersprüche gewachsen. Obwohl er mit vielem nicht einverstanden war, habe er weitergemacht, manchmal geheuchelt. Aufgestanden sei er nicht.

Ein gängiger Vorwurf gegen Leute wie ihn: Wer vorher um seiner Existenz willen Kritik zurückhielt, hängt der nicht weiter sein Fähnchen in den Wind? Leicht gesagt, aus bundesdeutscher Sicht, so meinen die DDR-Richter. „Keiner ist überhaupt bereit, sich in uns hineinzudenken“, so Uwe Langhammer.

Wenn irgend möglich will Langhammer weiter in seinem Beruf arbeiten. Der Richterbund hat die Prüfung von „vorauseilendem Gehorsam und unbotmäßiger Härte“ als Kriterien für die Richterbeurteilung empfohlen. Das oft als zu hoch kritisierte Strafmaß, so der Richter, müsse an den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen gemessen werden.

Alle Richter nehmen für sich in Anspruch, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. Viele identifizierten sich mit dem System Sozialismus. Zum Beispiel Germana Ernst, Direktorin am Stadtbezirksgericht Hohenschönhausen. Als sie Mitte Dezember letzten Jahres das erste Mal die Grenze nach West-Berlin überschritt, hatte sie schweißnasse Hände. Angst und Scham befielen sie und auch Erstaunen, weil keine Bettler auf den Straßen zu sehen waren, wie ihr immer erzählt wurde. Ganz im kommunistischen Geist erzogen, war Germana Ernst überzeugt, als Richterin den Zielen des Kommunismus zu dienen: soziale Gleichheit und Selbstverwirklichung für jeden. Sie ist im selben Jahr wie die Deutsche Demokratische Republik geboren. Westkontakte waren für sie ohnehin tabu. Westfernsehen hielt sie für gestellt und lehnte es ab.

In einem ihrer wenigen Strafrechtsprozesse waren zwei junge Männer wegen „versuchtem unerlaubtem Grenzübertritt“ angeklagt. Von ihnen wollte sie wissen, warum sie in ein Land möchten, wo es Arbeitslosigkeit und Drogen gibt. „Ich hab das wirklich nicht verstanden.“

Wie es ihr jetzt möglich sei, für den politischen Gegner Bundesrepublik zu arbeiten? „Ich suche nach Identifikationsmöglichkeiten. Das Grundgesetz finde ich gut. Wenn die Praxis so ist wie die Theorie, kann ich dafür eintreten“, meint die Richterin. Lügen müßte sie, wenn sie Hurra schreien sollte.

Von den 1A-Richtern, die politisches Strafrecht verhandelten, distanziert man sich vehement. Die ehemaligen Protagonisten des Sozialismus fühlen sich ungerecht behandelt und pauschal verurteilt. Doch vom Richterwahlausschuß geprüft werden, wollen sie alle.

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