: Was ist mit Nanninis Arm?
Italiens Medien zwischen „human touch“, „scoop“ und hochklassigem Journalismus ■ Aus Rom Werner Raith
Die journalistische Gemengelage ist für Otto Normalverbraucher außen- wie innenpolitisch reichlich explosiv: In Ägypten wurde der Parlamentspräsident ermordet, in Deutschland ist Innenminister Schäuble nur knapp einem Anschlag entgangen; in Italien selbst muß gerade Innenminister Gava zurücktreten, weil ihm gegen die mehr als 1.000 Toten jährlich durch organisierte Kriminalität nichts einfällt; in einer schon vor zwölf Jahren durchsuchten Wohnung in Mailand werden mehr als 400 Seiten Dokumente aus der Zeit der Entführung und Ermordung des Ministerpräsidenten Moro gefunden — doch für Italiens Medien, und speziell die via Äther informierenden, gibt es nur eine einzige wirkliche Top-Meldung: Was macht Nanninis Arm?
Der Formel-1-Pilot war mit seinem Hubschrauber nahe Siena etwas unvorsichtig gelandet, aus der offenen Tür herausgefallen und hatte sich dabei den rechten Vorderarm abgerissen. Den nähten die Ärzte wieder an — und nun ist die Sensation noch sensationeller. Statt der erwarteten Bilder vom Kairoer oder Appenauer Attentat, vom demissionierten Innenminister oder vom toten Moro erscheint ein weißbekittelter Grandseigneur, der sich als Chefarzt der Klinik erweist, in der Nannini liegt; er soll sich nun, volle acht Minuten, darüber verbreiten, wie man abgetrennte Gliedmaßen wieder zufügt. Daß er beiläufig erwähnt, er mache das monatlich mehrere, oft ein halbes Dutzend Male, läßt die Luft aus der Sensation nicht im geringsten heraus: Das Tolle ist, daß es sich um Nanninis Arm handelt.
Von der taz befragt, warum der Greifer des Piloten so ungleich wichtiger sei als beispielsweise die Golfkrise oder das Massaker von Jerusalem, sagt der zuständige Redakteur völlig verständnislos: „Mensch, siehste nicht, daß das mit Nannini eine menschliche Tragödie ist? Der braucht doch den Arm zum Steuern seines Rennwagens!“
Italiens Medien und der „human touch“: Meldungen, die auch nur irgendwie das Herz rühren können, rangieren weit vor allen anderen Sensationen — speziell wenn man dazu noch einschlägige Fotos, besser noch Filmaufnahmen vorweisen kann. In bestimmten Bereichen muß es sich dabei auch nicht unbedingt um bekannte Persönlichkeiten handeln; Kinder etwa sind immer eine Topmeldung, wenn ihnen etwas geschieht. Der sympathische Zug, den man dahinter vermuten könnte — daß sich hier die Massenmedien ehrlich ergriffen um das Schicksal der Schwachen kümmern —, wird allerdings schnell kompensiert, wenn man miterlebt oder manchmal schon alleine aus der Art der Aufnahmen erkennt, welcher Penetranz solche Berichte entstammen und wie sehr sie oft den Opfern eher wehtun denn in ihrem Schmerz helfen. Kein Entführungsopfer, das nicht schon Minuten nach seiner Befreiung lange Interviews geben muß — trotz der sichtbaren Erschöpfung mehrmonatiger Ankettung in Höhlen und Verliesen; kein von irgendjemandem geschlagenes Kind, das nicht vom Reporter mit immer den gleichen, schematischen Fragen bombardiert wird (mitunter sogar über die Art von Vergewaltigungen), kein Überlebender aus Unglücksfällen, dem die Sensationshascher nicht bis in die Intensivstation nachdrängen. Auch die Toten haben keine Ruhe: Erschossene Richter oder Mafiosi, aber auch Unfallopfer müssen abgebildet werden, ohne Tuch darüber, möglichst das Gesicht ausgeleuchtet, und so viel Blut wie möglich.
In den Nachrichten tummeln sich Tote und Verletzte
Dies alles keineswegs in einer sensationsgierigen Boulevardpresse (ein Pendant zu unserer 'Bild‘-Zeitung gibt es in Italien nicht), sondern auch in den großen international anerkannten Zeitungen wie 'La Repubblica‘, 'Corriere della sera‘ oder 'Il Messaggero‘ (etwas weniger in der dezenten industrienahen 'la Stampa‘) — vor allem aber im staatlichen Fernsehen RAI. Hier tummeln sich, und dies keineswegs nur in spätabendlichen Hintergrundmagazinen, sondern in dem guten Dutzend Nachrichtensendungen der drei Kanäle, neben den internationalen und nationalen Politnachrichten Tote und Verletzte; daneben müssen ehemalige Callgirls ihre Statements zu ihrer Heirat mit einem Fußballer abgeben, wird Klatsch über die feine und halbfeine Gesellschaft kolportiert.
Mitunter bekommt man den Eindruck, solcher Mischmasch soll vor allem den dann folgenden Rühr-, Grusel- und Schockfilmen zu realitätsträchtiger Reputation verhelfen (neben Klassikern der Filmbranche gibt es meist Serials über ausgefallene Polizisten oder, lebensnäher, über Mafiosi oder deren Häscher sowie über Heilige, Priester oder Teufelsaustreiber) oder aber die allabendlich ausgestrahlten Talk-, Spiel- oder Nonsens-Shows umrahmen. Bei den Privatkanälen, speziell den landesweit ausstrahlenden des TV-Moguls Berlusconi (der noch keine Nachrichten senden darf und auch die einige Zeit lang eingefügten Politmagazine wieder abbaut), sind aber umgekehrt die Filme der Rahmen — für die Werbung. Ein neues Mediengesetz verbietet zwar allzu exzessive Unterbrechungen künstlerischer Werke (auf zwei Stunden maximal vier Spot-Phasen), doch wenn er sich nicht daran hält, zahlt er lediglich eine Konventionalstrafe — an den Regisseur. Seither sind die vordem so vehement gegen die Unterbrechungen ihrer Werke zu Felde gezogenen Filmemacher merkbar ruhiger geworden.
Statt eigener Recherchen Informationen der Geheimdienste
Einige Zeit haben sich Fernsehredakteure auch in der amerikanischen Kunst des „investigative journalism“ geübt und Enthüllungsstories angeboten. Abgesehen davon, daß danach mit schöner Regelmäßigkeit der jeweilige Programmdirektor gehen mußte (was dann ein reges Bäumchen-wechsel-dich-Spiel provozierte, denn in Italien sind die Öffentlich-Rechtlichen vollkommen dem jeweils herrschenden Parteiproporz unterworfen), hat sich mittlerweile unabweisbar gezeigt, daß die Stories überwiegend nicht auf eigener Recherche beruhten, sondern auf Informationen aus Geheimdiensten oder Staatsanwaltschaften — und daß hinter denen wiederum Politiker standen, die so die Medien trefflich für ihre Interessen zu nutzen wußten. Das Publikumsinteresse, das etwa bei der Aufdeckung illegaler Waffenlieferungen an den Iran 1984 noch zusammenzuckte, regte sich kaum mehr, als Gleiches für die Superkanone des Irak herauskam. Die Magazine, einst Straßenkehrer, haben mittlerweile kaum mehr als ein paar Prozent Einschaltquote. Und daß ihnen auch der Rest kaum mehr glaubt, ist u.a. einer Sendung zu verdanken, mit der sich die RAI-Journalisten einmal, im Anfall von Ehrlichkeit, selbst auf die Schippe nehmen wollten: Sie montierten eine Fälschung, nach der die 1946 erfolgte Volksabstimmung über die Abschaffung der Monarchie und die Einführung der Republik einer massiven Wahlfälschung zu verdanken sei. Obwohl sie den Scherz noch während der Sendung aufklärten, hatte sich die Empörung der Politiker bereits so hochgeschaukelt, daß anderntags parlamentarische Untersuchungsausschüsse gefordert wurden, um dem Wahlbetrug nachzugehen ... und, nachdem die Gaudi offensichtlich geworden war, weitere Ausschüsse, um die Redakteure zu maßregeln. Konsequenz war jedenfalls, daß seither niemand mehr dem Fernsehen glaubt.
Darunter leidet nun auch ein Genre, das als einziges Italiens Fernsehen (und auch manche Zeitungsrubriken) in die Spitzenklasse qualifizierten Journalismus hinaufhob: die umfassende, breit angelegte Aufarbeitung der eigenen Geschichte, der Skandale, der Hintergrundbewegungen des Machtkartells. Unvergessen eine achtteilige, jeweils drei- bis vierstündige Sendung La notte della Repubblica (Die Nacht der Republik), eine Sendung über den Terrorismus (den linken, den rechten, den internationalen — und den Staatsterrorismus), in der nicht nur die natürlich unabdingbaren „Experten“ aus Wissenschaft und Politik gehört wurden, sondern auch die Hauptdarsteller der jeweiligen Vorgänge: Rotbrigadisten und Mitglieder rechtsterroristischer Gruppen, Palästinenser, Geheimdienstler aus diversen Seilschaften, Personen aus dem subversiven Untergrund. Darstellungsformen, wie sie zum Beispiel in der Bundesrepublik unvorstellbar wären — man stelle sich ARD-Reporter vor, die den Häftlingen in Stammheim völlig unzensiert eine halbe Stunde Rechtfertigung einräumen. Der Bundesanwalt hätte sie beim Wickel, ehe sie das Mikro zusammenschrauben könnten.
Im Schwinden begriffen ist auch die bissige aktuelle Sendung, Sammarcanda: Hier wurden Vorgänge des Tages oder der Woche jeweils vor Ort live bearbeitet. Als Ministerpräsident Andreotti seinen Parteikollegen Orlando, den ersten antimafiosen Bürgermeister Palermos, abgesägt hatte, berichtete Sammarcanda aus der überfüllten Aula des Bürgermeisterpalastes, zeigte die ohnmächtige Wut der Palermitaner, ließ wutentbrannte Andreotti-Gegner, aber auch notorische Feinde Orlandis zu Wort kommen, nahm freudig Handgreiflichkeiten verfehdeter Gruppen auf, schnitt dabei Live-Bilder aus den Zonen ein, wo man die meisten Entführungsopfer krimineller Banden vermutet, und schwenkte dann wieder auf die Politszene in Rom, wo die Verantwortlichen die Köpfe einzogen.
Zensur vermittels Etatkürzung
Leider, wie gesagt, sind all die hochklassigen Sendungen im Abbau begriffen. Der „Palazzo“ hat, nachdem es ihm nicht gelungen ist, mit seiner Personalpolitik kritische Stimmen zu stoppen, einfach umgeschaltet: Als voriges Jahr ein neuer Generaldirektor ernannt wurde, natürlich ein Freund Andreottis, da nahm der zuerst einmal den Rotstift und strich die Etats aller Ressorts — außer der Unterhaltung — um teilweise 80 Prozent zusammen. So mußte er keine Zensur ausüben — die Sendungen verflachten von selbst, denn kaum ein Ressortleiter kann mittlerweile seine Reporter mehr reisen lassen und gute Artikel oder Zulieferungen bezahlen. Nanninis Arm und der Professor, der dessen Zusammenflicken im Studio erklärt, kommen da wesentlich billiger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen