: Stille Nacht? — Ganz gewiß nicht.
■ »Es singen die Engelein so süße...« — die volle weihnachtliche Dröhnung
Nicht garstig dem Fest gegenüber eingestellt zu sein, fordert entweder eine heiligenmäßige Gelassenheit, die aber bei der Härte der Schikane kaum zu haben ist, oder einen infantilen Geist.
Weihnachtszeit, das ist in jeder Hinsicht ein Dauertest für Toleranz und Milde, auch was die Musik betrifft. Mit kaum zu überbietender Duldfähigkeit läßt sich jederman mit den alten Weisen quälen. Kaum fähig, mehr als die ersten Strophen zu erinnern, mit wackliger Intonation und zittriger Stimme ob der weihevollen Gemütslage wird das Lied vom Weihnachtsbaume gesungen, die Verheißungsarie, daß es morgen was geben wird und ein weiteres Dutzend nicht totzuinflationierender heiliger Evergreens.
Aber von der Bewährungsprobe abgesehen, die all diese Arrangements (für Blockflöten, für Kinderscharen und Laienchöre — besonders quälend —, für Akkordeonorchester, für Pavarotti, für Rudi Carell etc.) darstellen, ist der Drang zur Besinnlichkeit in den letzten zwei Dezemberwochen besonders ausgeprägt. Und Besinnlichkeit scheint sich notwendigerweise im Wunsch nach weihnachtlicher Barockmusik (etwas, was es gar nicht gibt) niederzuschlagen.
Die Gründe dafür wüßte ich gern. Sind es die glänzenden, goldenen Engelsstimmen, welche die Seele direkt zur paradiesischen Bescherung tragen? Ist es der warme, heimelige Klang der Blockflöten, auf den man sich das ganze Jahr über nicht genug freuen kann? Ist es die jubelnde Gewalt der Orgel mit der transzendierenden Kraft der Fugen und Choräle? Das Christkind allein weiß es. Jedenfalls sind die Programme der Kirchen und Gemeinden und aller anderen Säle voll davon.
Zwischen dem 21. und 24. Dezember kann man, den unvollständigen Vorankündigungen zufolge, allein sechsmal J.S. Bachs »Weihnachtsoratorium« (von dem in diesem Monat achtzehn (!) Plattenaufnahmen erschienen sind) hören. Die Termine sind dem Veranstaltungskalender zu entnehmen. Dieses Prunkwerk Bachscher Lobpreisungskünste ist in zwei Teile zu je drei Kantaten gegliedert, doppelt abendfüllend mithin.
Platz zwei der Hitliste wird, wer hätte das gedacht, von Oliver Messiaens »La Nativité du Seigneur« (die Geburt des Herren) belegt; viermal zu hören. Es ist ein Orgelstück in neun Meditationen, bei dem Messiaen an Klangüppigkeiten nicht spart, ein voller Teller Spekulatius für die Ohren sozusagen.
Einen Sonderservice bietet am 22. in der Nathanaelkirche in Schöneberg die Organistin Maria Scharwieß an. Sie spielt, ganz in der verlorengeglaubten Tradition souveräner Orgelvirtuosen, nach den Wünschen des Publikums Improvisationen über Advents- und Weihnachtslieder. Stichwort genügt, schon erklingt's.
Für Musikwütige, die alles schon erlebt zu haben glauben und das definitive Risiko suchen: Wie wär' es mit dem öffentlichen Konzert einer Musikschule? Freier Eintritt und ein selten zu hörendes Programm sind garantiert. Wie die Klaviertrios (Klavier, Cello, Klarinette) von Charles-Maria Widor, Sergej Rachmaninoff und Alexander von Zemlinsky am 22. im Konzertsaal Bundesallee der HdK letztlich gespielt werden, entzieht sich meiner prophetischen Gabe, schlimmer als das heimische Blockflötengeschrei wird's keinesfalls.
Als Gegengift zu den warmen Bädern der Sentimentalität empfiehlt sich ein Konzert am 21. Dezember mit dem Rias-Jugendorchester und Siegfried Palm (der sich als Vater des zeitgenössischen Cellostils einen Namen gemacht hat) als Solisten. Auf dem Programm steht ein Frühwerk von Leoš Janaceks »Idylle für Streichorchester«, von Paul Hindemith die »Kammermusik Nr.3« für Cello und Ensemble aus den wilden 20er Jahren und die »Kammersinfonie op.110« von Dmitri Schostakowitsch.
»Kling Glöckchen klingelingeling« wird es aufs vernehmlichste allüberall im Tiergarten erschallen, da dorten, nebst der Kongreßhalle (welche in des Volkes Mund »schwangere Auster« zuheißen beliebt) das Carillon befindlich, ein umfangreiches Glockenspiel, welches vom Carillonneur und Glockensachverständigen Jeffery Bossin höchstselbst bedienet wird. Er traktieret am 23., 25. und 26. gegen die zweite Nachmittagsstunde, etwaige Unbilden des Wetters oder anderlei Unannehmlichkeiten der Natur für nichts achtend, mancherlei christlich Lied zur Erbauung und Erhebung der Seele.
Wer den Parcour der Geschenkpartys, Prassereien und Selbstseligpreisungen unbeschadet überstanden glaubt und am 29. noch frisch ist, kann sich einem Härtetest besonderer Art unterziehen. Unter dem Titel »Die Zauberflöte« werden von neun (!) Flöten, einem Sopran und Harfe Mozartverhunzungen (excuse: -bearbeitungen) dargeboten. 20 Uhr, Kammermusiksaal.
Und schließlich ist, wie jedes Jahr am Tag nach der Orgie, am 1. 1. des neuen Jahres das traditionsreiche, rituelle Kateraustreiben in der Philharmonie. Beethovens Neunte, wie immer in d-moll, wie immer mit Chor, wie immer die volle Dröhnung.
Geläutert, dem Wahnsinn entrissen, das Schlimmste hinter sich, das Beste erwartend, taumelt der Rezipient ins Freie, schafft sich Luft und stimmt ein in den Gesang der Geister über der Philharmonie: »Happy new Year«. Frank Hilberg
Kirchen- und sonstige Weihnachtskonzerte unter 'Klassik‘ an den jeweiligen Tagen.
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