Something Got to Give

Der Fotograf Sam Shaw über Marilyn Monroe  ■ Von Guillermo Cabrera Infante

Jeden Sommer steht Marilyn Monroe von den Toten auf. Sie ist ein Licht im August, ein Irrlicht oder vielleicht ein Glühwürmchen, eine Sternschnuppe, aber mit eigenem Licht. Eigentlich ist sie ein häufig wiederkehrender Halleyscher Komet.

In diesem August (1987, Anm. d. Red.), 25 Jahre nach Marilyns Tod, wird es, wie bei den Festen zu Ehren der antiken Göttinnen (der Göttin Diana, der Aphrodite), viele Feiern und wenig Trauer geben. Eine Feier besonderer Art ist der in New York und London erschienene Bildband von Sam Shaw, (der in der BRD leider vergriffen ist, Anm. d. Red.) eine der besten Sammlungen von Marilyn- Fotos, die je ein einzelner Fotograf zusammengetragen hat. Sie sind so etwas wie das Erscheinen des blauen Vogels, nicht in meinem Hof, sondern im großen Hof für alle, im Central Park von New York. Es geschah im letzten Sommer. Bei einem Spaziergang in der Nähe der Park Avenue machte Sam Aufnahmen von mir, und da ich müde war, suchte ich eine Bank, wo ich mich im Schatten der Bäume von der Hitze und den Leuten und ihrem Lärm ausruhen könnte. New York kann dem Wort Masse einen genauen Sinn geben. Als wir uns hinsetzten, sagte Sam so ganz nebenbei: „Auf dieser Bank hab' ich mal eine Aufnahme von Marilyn gemacht.“ Marilyn, das ist die einzige Marilyn unter allen möglichen Frauen.

Daneben hätte ein Pärchen gesessen — vertraute mir Sam an —, das versuchte, sich zu lieben oder zumindest Frieden zu schließen. Jedenfalls haben sie nie erfahren, wie nahe sie dem großen Filmstar waren, dieser Göttin der Liebe.

Die Legende der M.M. begann mit einem oder zwei Fotografen

In einer Erzählung des denkbar nordamerikanischsten aller Autoren, Mark Twain, gibt der Schriftsteller vor, bei einer Schiffsreise rund um die Welt in ein Reisetagebuch zu notieren: „Heute haben wir den Äquator überquert. Mary hat Fotos davon gemacht.“ Sam macht keine Fotos von einer imaginären geographischen Linie, sondern von Sternen, die real sind. Zumindest so real, wie Sterne überhaupt sein können. Marilyn war berühmter als dieser John Lennon, der einmal sagte: „Ich bin berühmter als Christus.“ Jesses! Marilyn ist, im Gegensatz zu Lennon, eine Legende, die mit der Zeit immer größer wird, und keine Blasphemie.

Die Legende der M.M. begann mit einem oder zwei Fotografen. Bevor sie eine Göttin der Leinwand wurde, war Marilyn der Augenstern von Fotografen wie André de Dienes, der sie als erster nackt fotografierte und der ihr Liebhaber war (sagt de Dienes), oder Sam Shaw, der ihr mit der Kamera in der Hand überall hin folgte, vom Central Park in New York (wo die Liebenden sie nie sahen) bis nach Los Angeles und wieder zurück zu diesem Gitter auf einem Bürgersteig in Manhattan — das Foto ging mehrmals um die Welt. Zu sehen wie der Rock Marilyns (die darauf beharrte, daß sie nichts darunter trug) hochfliegt, ist eine der Ikonen dieses Jahrhunderts, wie Hitler, der in Paris die Gigue tanzt, oder Einstein, der dem Fotografen die Zunge herausstreckt. So manches Mädchen hat diese Pose nachgeahmt (die Marilyns auf dem erfrischenden Grill), viele Fotografen haben sie kopiert, und es gibt sogar einen französischen Film, Diva, der als Höhepunkt der Lobhudelei auf den Star dieses Memento Monroe in eine Hommage an ihre in der Nacht enthüllte Anatomie verwandelt. Aber die französischen Beine sind nicht dasselbe, sind nicht dieselben. Marilyns Beine brauchen kein Double.

„Marilyn war nie eine Nymphe“

„Bestimmt stand der Wind günstig für sie“, sagte ich zu Sam.

Wie bitte?

„Für das Pärchen, das nichts sah. Es heißt, Marilyn habe selten gebadet, ihre Füße und Hände seien immer schmutzig gewesen, sie habe gerochen. Deodorant hat sie anscheinend nie benutzt.“

„Alles gelogen!“ rief Sam, der ein sanftmütiger Mensch ist.

„Nach ihrem Tod haben das mehrere Chronisten geschrieben.“

„Die schrieben doch über eine Leiche. Die lebende Marilyn war so wohlriechend, wie sie auf meinen Fotos wirkt, sogar in Bluejeans.“

„Sie war eine der ersten, die Jeans trug, nicht?“

„Vielleicht weil sie die einzige war, die sie ausfüllen konnte.“

„Sie ist eine Nymphe, die dich dauern sollte.“

„Marilyn war nie eine Nymphe.“

„Ich habe den Nachmittag eines Fauns zitiert, rezitiert. Mallarmé beginnt sein Gedicht mit den Worten: ,Sie soll'n mir dauern, diese Nymphen.‘“

„Marilyn war immer eine Frau.“

„Wie Rita Hayworth.“

„Nur, daß sie nichts Südländisches an sich hatte, auch wenn sie sich wie eine blonde Zigeunerin aufführte.“

„Eine gebleichte.“

„Ich hab sie immer nur blond gekannt. Sogar auf dem skandalösen Nacktfoto im 'Playboy‘ war sie blond. Da sieht man zwar nicht, ob sie eine natürliche Blondine ist, aber es spricht auch nichts dagegen.“

Sam Shaw ist nie boshaft.

„Laurence Olivier hat gesagt, Miss Monroe habe, so seine Worte, ,die außergewöhnliche Gabe, in dem einen Augenblick den Eindruck erwecken zu können, sie sei die kesseste Göre, und gleich darauf die vollkommene Unschuld‘.“

„Marilyn war mitten in dem ganzen Getriebe ein Unschuldslamm. Sie blieb es bis zum Schluß. Sie war aller Opfer.“

„Mehr Bus Stop als Niagara.

„Genau.“

„1955, an den Abenden, als ich Bus Stop im Theater sah, war Marilyn jedesmal im Saal.“

„Marilyn Monroe verschwand in Manhattan, und Norma Jean kam wieder zum Vorschein. Manchmal war sie wie Scarlet O'Neil, eine unglaubliche unsichtbare Frau. In Hollywood war sie überall ein strahlender Stern, aber in Manhattan war sie, ungeschminkt, ganz schlicht gekleidet und sehr, sehr zurückhaltend, tagsüber ein Niemand. Abends schminkte sie sich und zog sich an, um sich als Marilyn Monroe zu verkleiden. Bis zu den Dreharbeiten und der Aufführung von Das verflixte siebente Jahr. Da wurde sie über Nacht zum Superstar. In der Nacht, in der sie vor der Presse und Tausenden von Nachtschwärmern die Szene drehte, wo sie auf dem Gitter eines Belüftungsschachts des Subway eine umgekehrte Luftdusche nimmt. Ich war dabei und bekam alles mit, und neben den Stills, die der Standfotograf des Films aufnahm, machte ich die Szenenfotos, die man als die offiziellen bezeichnen kann. Meine Fotos gingen um die Welt. Das heißt, Marilyn ging um die Welt, aber die Fotos waren von mir. Natürlich waren sie von ihr, aber von mir gemacht. Marilyn war bestens gelaunt, man hat sie nie lebhafter gesehen. Im Film war sie eine Wirklichkeit gewordene Phantasie gewordene Wirklichkeit. So war sie auch auf den Fotos, die ich aufnahm. Konnte es überhaupt eine hübschere Frau geben? War sie Wirklichkeit oder das Produkt von Schminke und Beleuchtung? Auf meinen sehr schlichten Fotos sah sie hübscher aus als im Kino. Aber in Wirklichkeit war sie noch hübscher.“

„Es schien unmöglich, ihre Schönheit mit der Kamera einzufangen“

„Sir Laurence hat zu ihr gesagt, wenn er eine noch schönere Frau als sie sähe, würde er in Ohnmacht fallen, glatt aus den Pantinen kippen.“

Sam wußte Bescheid.

„Ich habe Marilyn mehr als einmal gesehen, ich war jahrelang ihr Fotograf und ihr Freund, und sie war immer von einer solchen Schönheit, daß es unmöglich schien, sie mit der Kamera einzufangen. Ich glaube nicht, daß es mir gelungen ist. Ich habe sie, glaube ich, mehr als einmal gesehen, und hatte nie das Bedürfnis, in Ohnmacht zu fallen.“

„Olivier übertrieb natürlich in Shakespearescher Manier. Außerdem war Vivien Leigh, seine Frau, schöner als Marilyn.“

„Ich habe sie nie kennengelernt.“

„Ich auch nicht. Ich rede von ihrer Schönheit auf der Leinwand.“

„Ja, aber im wirklichen Leben war Marilyn ganz anders. Eine sehr empfindsame Frau, sehr unsicher, sehr verletzlich.“

„Vivien Leigh auch.“

Sam fuhr fort.

„Diese Schönheit mit der Kamera einzufrieren, das war meine ganze Hoffnung und brachte mich zur Verzweiflung.“

„Aber Marilyn hielt sich stundenlang vor dem Spiegel auf. Sie selbst hat das zugegeben.“

„Das war ihre Unsicherheit, nicht ihr Mangel an Schönheit. Sie hatte Komplexe wegen ihrer Nase. Für mich war das der Schuß Häßlichkeit, den ihr viel zu hübsches Gesicht brauchte.“

„Der Kameramann Néstor Almendros hat erklärt, Marilyn habe einen argen Fehler gehabt, und zwar ihre Augen, die zu beiden Seiten des Gesichts auseinanderstanden.“

„Dieser Fehler war wirkungsvoll.“

„Das ist eine sehr moderne Auffassung von der weiblichen Schönheit. Als erster hat sie der Maler Dégas zum Auddruck gebracht, als er sagte: ,Jede schöne Frau muß etwas Häßliches an sich haben.‘ So etwas nennt man dann Charakter.“

Bei Marilyn nenne ich das eine wunderbare Obsession. Sie wollte perfekt sein, ein wandelndes Kunstwerk.“

„Aber sie hatte zuviel Busen, zuviel Hintern. Sie wäre kein Dégas, sie wäre ein Picasso.“

„Sie hat in den Film die Schönheit als Übertreibung eingeführt. Das ist in Das verflixte siebente Jahr von Anfang an deutlich zu sehen.“

„In dieser Art ist mir Kim Novak lieber.“

„Aber Kim Novak war eine Epigonin, eine Imitation.“

„Manchmal sind Imitationen perfekter als das Original, so wie das auch bei den Perlen von Mallorca der Fall ist.“

„Ein Diamant, my friend, bleibt immer ein Diamant.“

„Hat Marilyn nicht auch gesungen, Diamanten sind der beste Freund?

„Für ein Mädchen. Das war in Blondinen bevorzugt. Marilyn hat übrigens diese bevorzugte Blondine (immer erstaunte blaue Augen, roter Mund und Busen und Hintern) perfekt verkörpert. Sie ist das einzige, woran man sich bei diesem Streifen noch erinnert.“

„Und Jane Russell.“

„Jane Russell verdiente mit ihrer Rolle 200.000 Dollar, Marilyn 500 pro Woche, obwohl sie es war, die von den Gentlemen bevorzugt wurde.“

„Es gab einen sichtbaren Sprung zwischen der Monroe in Blondinen bevorzugt und der Marilyn, die sich in Das verflixte siebente Jahr für immer diesen Namen aneignete. Sie zitierte gerne des öfteren niemand geringeren als Goethe: ,Es bildet ein Talent sich in der Stille‘.“

„In ihrem Fall war es ein Talent, das sich in aller Öffentlichkeit bildete von Film zu Film, von Foto zu Foto, von einem Pressetermin zum nächsten. Sogar ihre Ehen und ihre Scheidungen und ihre Romanzen waren öffentlich. Um die Marilyn dieser Jahre war es nicht gerade still.“

Sam, den Marilyn in ihren glorreichen Tagen Sam Spade nannte, nach dem Mann, der die Spur des edelsteinbesetzten Falken bis mitten in ein Räubernest verfolgte, Sam Shaw, der Weise, hätte wie von Sternberg sagen können: „Ich brachte den Ozean in Wallung, und es tauchte eine Frau auf, die dazu bestimmt war, die Welt in ihren Bann zu schlagen.“ Von Sternberg meinte natürlich Marlene Dietrich. Aber Sam, der sich immer hinter seiner Kamera versteckt hält, ist ein schweigsamer Mann und hat nie etwas gesagt. Es war eine jahrelange Freundschaft vonnöten, damit er mir das sagte, was er gesagt hat. Mehr als einmal mußte ich ihn ermahnen: Say it again, Sam.

Samuel Shaw, Fotograf, Filmproduzent und Vertrauter so schwieriger Schauspieler wie John Cassavetes und Anthony Quinn, kannte nicht nur Hunderte von stattlichen Statistinnen mit Namen, er hatte auch Marilyn Monroe schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt bei den Dreharbeiten von Viva Zapata kennengelernt. Marilyn Monroe war damals weder Marilyn noch die Monroe und nicht einmal Marilyn Monroe. Sie hörte noch auf den Namen Norma Jean, der heute so in ist und damals so vergessenswert war. Marilyn war weder Kleindarstellerin noch Starlet, sie hatte keinen festen Vertrag und arbeitete ab und zu als Statistin. Sie war eine der Statistinnen, die Sam, der Mann, der die Bescheidenheit erfunden hat, nicht nur grüßte, sondern fotografierte.

Sam hat in seinem Fotoarchiv und in seiner Trophäensammlung von Negativen mehr Sterne, um Louis B. Mayer zu paraphrasieren — den Mann, der der Metro-Löwe war —, mehr Gestirne als bei Nacht am Himmel stehen. Seine Kontaktabzüge sind sein Paradies und sein Nimbus. Doch eine Hölle wollte er sich nicht einrichten. Aus seinen vielen Fotos von Marilyn und seinen Erinnerungen ist diese Unterhaltung entstanden, die dicht um den strahlendsten Stern kreist, wie Hedda Hopper immer sagte, die Chronistin von Hollywood, die die Monroe in fast peinlichem Überschwang jenseits aller Adjektive in den Himmel hob. Als Marilyn bei ihrem letzten Film Something Got to Give (unvollendet) von der Fox gefeuert wurde, spendete Hedda Hopper dem Studio jedoch öffentlich Beifall. No more Marilyn Monroe.

Manche meinen, auf diesen Rausschmiß sei ihr Selbstmord zurückzuführen. Sam bestreitet entschieden, daß Hollywood der Grund für Marilyns Tod war. „Hollywood hat sie nicht zugrundegerichtet, aber es hat sie auch nicht gemacht. Marilyn war ihr eigener Frankenstein, zugleich Schöpferin und Ungeheuer. Die Einsamkeit der Berühmten hat Marilyn umgebracht.“ Terenci Moix, Autor des neuen Romans Der Tag, an dem Marilyn starb, würde sagen, daß das Übermaß an Liebe sie umgebracht hat. Ich bin aufrichtig davon überzeugt, daß Marilyn Monroe, wie jeder andere auch, vom Leben umgebracht wurde.

Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer. Zuerst veröffentlicht in 'Medios Revueltos‘, 3/88. Mit freundlicher Genehmigung.