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DIE KUNST AM RAD

■ 150.000 Fahradrikschas gibt es in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. Sie sind der Alptraum eines jeden Stadtplaners, der an staufreien Konzepten für den innerstädtischen Verkehr arbeitet. Sie sind aber auch die buntesten...

150.000 Fahrradrikschas gibt es in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. Sie sind der Alptraum eines jeden Stadt-

planers, der an staufreien Konzepten für den innerstädtischen Verkehr arbeitet. Sie sind aber auch die buntesten und verziertesten Gefährte der Welt.

VONWALTERKELLER

„Wollen sie mal hochkommen und sich alles von hier aus ansehen“, ruft mir ein Polizist freundlich zu. Er steht auf seiner gut zwei Meter hohen Verkehrsinsel mitten auf einer Kreuzung Dhakas, der Hauptstadt Bangladeschs, dem ehemaligen Ostpakistan. Sicherlich hat er eben beobachtet, wie ich mich im Zickzack über die Straßenkreuzung gedrängt habe, und hat Mitleid mit mir. Dabei mußte ich höllisch aufpassen, nicht überrollt zu werden. Nein, die Gefahren im Straßenverkehr Dhakas gehen nicht nur von der ständig wachsenden Zahl motorisierter Fahrzeuge aus. Es sind vor allem Fahrradrikschas, jene dreirädrigen Gefährte, vor denen man sich in acht nehmen muß, weil sie in der Sieben-Millionen-Stadt in Schwärmen auftreten und das Bild der Metropole ungleich stärker bestimmen als die Cabs, Londons schwarze Motordroschken.

Nirgendwo sonst auf der Welt, wo Fahrradtaxen betrieben werden, gibt es mehr: 150.000 sind es allein in Dhaka. 300.000 Fahrer, die im Schichtdienst rund um die Uhr arbeiten, befördern täglich Millionen von Fahrgästen. Etwa zwanzig Prozent der Stadtbevölkerung hängt direkt oder indirekt von dieser Industrie ab — landesweit sind es sogar mehrere Millionen Menschen. Ich nehme das Angebot des freundlichen Polizisten gerne an und klettere zu seinem Arbeitsplatz hinauf. Sofort entwickelt sich ein Gespräch, das er immer wieder kurzzeitig unterbricht, um das unbeschreibliche Treiben unter uns durch ein paar Armbewegungen wenigstens etwas zu strukturieren. Aber niemand scheint sich um ihn zu kümmern. Die Fahrer bahnen sich ihre eigenen Wege durch das Knäuel. Und die Fahrgäste, die etwas erhöht hinter ihnen sitzen, scheinen alles mit Fassung zu tragen.

Erschwingliche Form des Transports

Rikschas in Bangladesch, vor allem die in Dhaka, tragen schon wegen ihrer großen Anzahl zu den regelmäßigen Verkehrsstaus in der Stadt bei. Hinzu kommt die unorthodoxe Fahrweise der Rikscha-Wallahs, wie die Fahrer im Volksmund genannt werden. Sie radeln ihre Fahrgäste ans Ziel, ohne dabei irgendeine dem Europäer vertraute Verkehrsregel zu beachten. Straßen, auf den die dreirädrigen Stahlrösser verkehren, bereiten den Stadtplanern Alpträume, die an staufreien Konzepten für den motorisierten Nahverkehr arbeiten. Für den Großteil der Bewohner Dhakas bieten sie jedoch die einzig erschwingliche Form des innerstädtischen Transports.

Versuche, die bunten Gefährte, die schon 1937 eingeführt wurden, durch „moderne“ Taxen zu ersetzen, sind von Politikern immer wieder unternommen worden. Für viele von ihnen sind die von Muskelkraft angetriebenen Transportmittel ein Symbol der Unterentwicklung Bangladeschs. Der Ersatz der Fahrradrikschas durch noch mehr Busse oder motorisierte Taxen hätte jedoch schwerwiegende Folgen: Dann stiege nicht nur die Arbeitslosigkeit drastisch an. Auch die Luft in der Stadt würde noch schlechter, als sie heute schon ist. Die mit einem Benzin-Öl-Gemisch fahrenden Autoscooter — die „moderne“ Version einer Fahrradrikscha —, Privatfahrzeuge und schwarze Rauchwolken ausstoßende Lastwagen und Busse verursachen bei vielen Menschen Atemwegsbeschwerden, Augenbrennen und Hustenreize. Wer sich nach einstündigem Gang durch Dhaka die Nase putzt, kann die Verunreinigung der Luft am schwarzen Taschentuch erkennen.

Weil Rikschas in Bangladesch mehr sind als nur ein scheinbar archaisches Transportmittel, würde jeder, der sie aus den Straßen verbannen will, auch ein Stück „fahrender Kunst“ zerstören. Kunst an der Rikscha ist die Kunst der Armen und Unterdrückten. Rikschas in diesem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, sind die buntesten und verziertesten Gefährte der Welt. Kaum ein Dreirad, das nicht liebevoll bemalt und mit zahlreichen Schnörkeln verziert ist. Selbst am Lenker haben viele der Fahrer noch kleine Fähnchen oder Blumenvasen montiert, in denen Plastikblumen durch die Stadt kutschiert werden. Ganz besonders geachtet wird auf die Bemalung einer Holz- oder Zinkplatte, die am Heck angebracht ist. Waren bis vor einigen Jahren noch Darstellungen von Kampfszenen aus dem Befreiungskrieg von 1971 vorherrschend, so sind heute andere Motive besonders beliebt. Es sind meistens Allegorien, die kunstvoll und farbig das Leben auf dem Land idealisieren. Andere Bilder kopieren in grellen Farben Kinoplakate oder thematisieren bildlich die Überschwemmungskatastrophen, die in brutaler Regelmäßigkeit große Teile des Landes an Ganges und Brahmaputra — die hier Padma und Megna heißen — unter Wasser setzen und Menschen und Tiere hinwegraffen.

Kunst der Armen und Unterdrückten

Westliche Motive haben zunehmend Konjunktur: achtspurige Autobahnen mit Brückenviadukten und selbst der Lufthansa-Airport-Expreß, der sich in einer naiven Darstellung am Rhein entlang windet, fehlen nicht.

Die Faszination, die von der Farbenpracht der Rikschas und ihren aufgemalten Kunstwerken ausgeht, versperrt die Sicht für das meist harte Leben ihrer Fahrer. Sie zählen zu den Ärmsten der Armen, viele sind noch im Kindesalter, andere, die sich mit ihrer „Fracht“ über die Straße quälen, sicherlich schon über 60 Jahre alt. Gemeinsam ist ihnen, daß sie mager und ausgezehrt sind und verbrannt von der Sonne. Die meisten Rikschafahrer Dhakas sind irgendwann einmal vom Land gekommen. Die wachsende Armut hat sie alleine oder mit ihren Familien in die Stadt getrieben. Einmal in Dhaka, landen sie in den Slums der Großstadt, wo der Traum von einem guten Leben nicht in Erfüllung geht. Wenn überhaupt Arbeit gefunden wird, ist es häufig nur die harte Arbeit als Rikscha-Wallah. Der Verdienst ist zuwenig zum Leben und zuviel zum Sterben. Das große Geld machen indes andere: z.B. die Vermieter. Nur 3 Prozent der Fahrer sind Eigentümer ihrer Rikschas. 97 Prozent mieten sich ihr Arbeitsgerät von sogenannten Mahajans, die den Großteil der Einkünfte der Fahrer einstreichen. So ist verständlich, daß jeder Rikscha-Wallah von seiner eigenen Rikscha träumt. Aber für die meisten geht auch dieser Traum nie in Erfüllung. Wenn die Mahajans gefürchtet sind, so gibt es eine Berufsgruppe in der Stadt, die von den Fahrern gehaßt wird: es sind die Verkehrspolizisten, die immer wieder versuchen, ihre mageren Gehälter durch „Bußgelder“ aufzubessern, die sie willkürlich einfordern. Daß die zehn, zwanzig oder fünfzig Taka nicht in die Staatskasse fließen, sondern ohne lange Umwege in den Taschen der Beamten verschwinden, muß hier nicht ausdrücklich betont werden.

Ich stehe übrigens noch immer auf der Kreuzung und betrachte fasziniert das Treiben unter mir. „Solche Fotos können Sie wohl sonst nirgendwo auf der Welt machen“, meint der freundliche Polizist auf der Verkehrsinsel. Recht hat der Mann.

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