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„Kräfte der Diktatur sind noch an der Macht“

30.000 Menschen verschwanden in Argentinien während der Militärdiktatur — kein einziger Verantwortlicher ist heute in Haft/ Foltergeneral Suárez Mason wurde vor der Verurteilung amnestiert/ „Die Justiz ist nicht an Beweisen interessiert“  ■ Von Sheila Mysorekar

Clara Israel ist eine energische alte Dame aus Buenos Aires, schon über siebzig, eine pensionierte Biologin. Senora Israel sollte eigentlich ihre Pensionszeit in Ruhe genießen dürfen, aber statt dessen wälzt sie Gerichtsakten und juristische Fachliteratur. Sie hat ihr Leben einer Aufgabe gewidmet — der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bedeutet für sie: die Bestrafung der Mörder ihrer Tochter. Aber das ist in Argentinien heute ein Ding der Unmöglichkeit, denn verantwortlch für den Tod von Teresa Israel, der Tochter, sind Militärs. Und alle rechtmäßig verurteilten Mörder und Folterer der Zeit der Militärdiktatur (1976 bis 1983) sind heute frei. In den vergangenen Jahren waren in mehreren Schritten die unteren Chargen, die „kleinen“ Folterer, freigelassen worden. Ende vergangenen Jahres sprach Präsident Carlos Menem den „indulto“ aus, den Gnadenerlaß für die letzten noch einsitzenden Diktatoren — im Namen der „nationalen Versöhnung“. Das Parlament wurde vorher allerdings nicht um Zustimmung gebeten. Heute, acht Jahre nach Beendigung der Diktatur, ist keiner der Verantwortlichen für das Verschwinden und den Massenmord an 30.000 Menschen mehr in Haft.

Kein „Nürnberg Argentiniens“

Teresa Israel ist eine von diesen „Verschwundenen“. Sie war eine Rechtsanwältin, aktiv in der Verteidigung von politischen Gefangenen. 1977 wurde sie selbst abgeholt und verschleppt in das Konzentrationslager „Club Atlético“, von wo sie nie wieder zurückkehrte. Ermordet im Alter von 25 Jahren. Seit diesem Tag kämpfen Teresas Eltern für die Identifizierung und die Bestrafung der Mörder. In den 80er Jahren wurde ein Prozeß gegen die Beteiligten der Diktatur geführt. „Aber die Ungerechtigkeit hat schon direkt nach der Verurteilung begonnen“, sagt Senora Israel. „Die Mörder der Militärdiktatur saßen nicht in normalen Gefängnissen. Sie durften ihre Familien empfangen; sie hatten nichts mit den ,gewöhnlichen‘ Gefangenen zu tun. Und jetzt sind sie auch noch amnestiert worden!“ Senora Israel öffnet eine Tür und zeigt auf den Schreibtisch in diesem Raum. „Das hier war Teresas Anwaltspraxis. Wir haben alles so gelassen wie an dem Tag, an dem sie verhaftet wurde.“ Fotos von Teresa hängen an der Wand, und auf den Regalen stapeln sich die Akten über ihre Mörder. „Es reicht uns nicht, nur die Erinnerung zu bewahren“, erklärt die Mutter. „Wir haben Berufung gegen die Amnestie eingelegt im Fall des Ex-Generals Suárez Mason. Zumindest seine Freilassung ist verfassungswidrig.“

Teresa Israel wurde in einem der Konzentrationslager der Sicherheitszone 1, unter Kommando des 1.Armeekorps, gefangengehalten. Der Kommandant des 1.Armeekorps (1er Cuerpo de Ejército) in jenen Jahren, zu Beginn der Diktatur, war General Carlos Guillermo Suárez Mason. Zwischen 1976 und 1979 verschwanden mindestens 5.000 Menschen in Zone 1, welche Buenos Aires und die umliegenden Provinzen umfaßt. Suárez Mason befahl die Einrichtung von circa 20 geheimen Gefängnissen. Unter seiner Leitung befanden sich 35 Konzentrationslager.

Als die neue demokratische Regierung unter Präsident Alfonsin einen Prozeß gegen die Junta einleitete, wurde auch Suárez Mason wegen Mordes gesucht. 1984 floh er in die Vereinigten Staaten, wurde aber 1988 an Argentinien ausgeliefert. Der Prozeß gegen ihn war noch nicht abgeschlossen, als er Ende vorigen Jahres amnestiert wurde. „Das ist verfassungswidrig“, erklärt Senora Israel. „In der argentinischen Verfassung steht, daß nur jemand amnestiert werden kann, der zuvor verurteilt worden ist. Im Januar haben wir deswegen Berufung eingeleitet.“

Teresas Mutter hat die Hoffnung auf Gerechtigkeit nicht aufgegeben. Aber viele Juristen sehen keine großen Möglichkeiten mehr, mit der faschistischen Vergangenheit des Landes abzurechnen. Dr. Andrés D'Alessio war einer der Richter während des Prozesses gegen die Junta. Als Generalstaatsanwalt war er außerdem verantwortlich für den Antrag auf Auslieferung von Suárez Mason. „Der Prozeß war kein ,Nürnberg Argentiniens‘“, meint er. „Die Militärs und die zivilen Kräfte, die die Diktatur unterstützten, haben noch heute die Macht, sowohl politisch wie auch ökonomisch. Eine wirkliche Aufklärung der Morde und Bestrafung der Täter ist unter diesen Bedingungen äußerst schwierig.“

Massengräber

Die Angehörigen der Opfer und die Menschenrechtsorganisationen versuchen trotzdem, die Erinnerung an die blutige Vergangenheit des Landes wachzuhalten. Mit diesem Ziel arbeitet beispielsweise die „Equipo de Antropologia forense“, eine Gruppe junger ArchäologInnen und AnthropologInnen: Mit Unterstützung ausländischer Stiftungen haben sie sich daran begeben, die anonymen Massengräber der Konzentrationslager zu öffnen, die Ermordeten zu exhumieren und zu identifizieren. Mercedes Doretti, eine 32jährige Wissenschaftlerin, war von Anfang an dabei: „Im Mai 1984 haben wir mit den systematischen Exhumierungen begonnen. Zu dieser Zeit wurden die Massengräber mit Bulldozern ausgehoben, was es natürlich unmöglich macht, die Toten zu identifizieren.“ Sie zeigt Fotos der Gräber: Hunderte von Skeletten liegen übereinander. Bei manchen kann man die Einschußlöcher im Schädel deutlich erkennen. „Genau nach solchen Spuren suchen wir“, sagt Mercedes Doretti. „Nachweise für die Todesursache. Aber wir suchen auch nach persönlichen Gegenständen, wie Schmuck, die Hinweise auf die Identität geben. Erst wenn wir jemanden identifiziert haben, wird offiziell zugegeben, daß dieser Mensch von den Militärs ermordet wurde. Bis jetzt ist ja nicht einmal offiziell zugegeben worden, daß Zehntausende von Menschen verschwunden sind. Kinder können ihr Erbe nicht antreten, weil ihre Eltern nie für tot erklärt worden sind.“ Die Identifizierung von Ermordeten, die diese Gruppe geleistet hat, bildet wichtige Beweise im Prozeß gegen die Kommandanten. Ex-General Suárez Mason, wie alle Folterer und Mörder der Diktatur, ist ja jetzt ein freier Mann. „Wir arbeiten trotzdem weiter“, sagt Mercedes. „Die Justiz ist nicht mehr an Beweisen interessiert. Aber wir können die Leichen, die wir identifiziert haben, den Familien zur Bestattung übergeben. Und wir bewahren auch die kollektive Erinnerung der Geschichte unseres Landes.“

Präsident Carlos Menem in Bonn

Bonn (afp) — Der argentinische Staatspräsident Carlos Menem ist gestern zu einem Staatsbesuch in Bonn eingetroffen. Nach Unterredungen mit Bundespräsident von Weizsäcker und Helmut Kohl will Menem heute bei Wirtschaftsvertretern für mehr deutsche Investitionen in Argentinien werben. Am Donnerstag wird er in Berlin erwartet.

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