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Das Zentrum der jüdischen Kultur

■ Die Oranienburger Straße/ In den Ruinen tobt sich jetzt Ostberlins alternative Szene aus/ In Büdchen und Kneipen geht die Angst um, die Mieten nicht mehr bezahlen zu können

Straßen führen ein Eigenleben, sie blühen auf in guten Zeiten und leiden unter schlechten. Der Verfall der Oranienburger Straße war kaum wahrnehmbar über die Jahre. Zuerst schlossen in den späten Fünfzigern die verräucherten Kneipen im Souterrain, wie der legendäre »Esterhazy-Keller« an der Ecke Friedrichstraße. Später dann machte ein kleiner Laden nach dem anderen dicht. Dreieinhalb Jahrzehnte nach Ende des großen Krieges, der auch in dieser Straße viele Lücken schlug, wurden wieder Häuser gesprengt und schließlich starben die Bäume, Jahr um Jahr — waren es lecke Gasrohre, die Trockenheit oder der Autoverkehr? Niemand weiß es so recht.

Des einen Leid des anderen Freud: Das Gelände um die Ruine vom »Haus der Technik« wurde zum Geheimtip der Szenenbilder dieser Welt. Das sowjetische MOSFILM- Studio drehte hier den Sturm auf die Reichskanzlei gleich mehrmals und auch andere Filmgesellschaften nutzten die Inschrift an einer Brandmauer »Nie wieder Krieg« über Jahre. Nun ist die Adresse auch in Hollywood bekannt.

TACHELES leuchtet es heute in großen Lettern von der Wand der Ruine am Beginn der Magistrale, die südwestlich von der Friedrichstraße verläuft. Nichts erinnert in den Resten vom Haus der Technik, daß sich hier eine der prächtigsten Fassaden Deutschlands befand. Sie zog sich bis zur Friedrichstraße, beidseitig von fünfgeschossigen Gebäuden begrenzt. Drei Brücken verbanden die Kaufhausflächen links und rechts der 14 Meter breiten Passage. Über zehn Treppenaufgänge, neun innere Verbindungstreppen, elf Personenfahrstühle und zehn Lastenaufzüge — der größte mit einer Grundfläche von 30 Quadratmetern — gelangte man in die oberen Etagen.

Brandbomben beschädigten das Gebäude im Zweiten Weltkrieg, es blieb während der letzten Jahrzehnte ungenutzt und verfiel. Schließlich sprengte man Anfang der achtziger Jahre neun Zehntel der Anlage weg. Das Kino Camera, das lange Zeit wegen seines einzigartigen Programms als Geheimtip unter den Ostberliner Filmenthusiasten galt, wurde geschlossen. Anfang 1990 wurde die Ruine zum alternativen Kulturzentrum erklärt. Das Café Zapata gilt in der Szene mittlerweile als ganz heißer Tip.

Tacheles ist ein bewußter Bezug zur jüdischen Kultur, die in der Vorkriegszeit hier ihr Zentrum hatte. Sieben vermögende jüdische Familien übersiedelten 1671 auf Geheiß des Großen Kurfürsten von Wien nach Berlin. 1925 lebte jeder dritte Jude Deutschlands in Berlin. Joseph Roth schrieb 1927: »Berlin ist Durchgangsstation, in der man aus zwingenden Gründen länger verweilt.«

In der Oranienburger Straße lebten bis in die zwanziger Jahre hinein fast alle Rabbiner Berlins. In Nummer 28 ist die Verwaltung der Ostberliner jüdischen Gemeinde untergebracht. In der Nummer 31 befindet sich die Neue Synagoge, eine der bedeutendsten Kultbauten in Deutschland. Mit ihren orientalischen Stilelementen war sie zur Bauzeit (1853 bis 1866) neben dem zeitgleich errichteten Roten Rathaus das meistbeachtete Bauwerk.

In einer zeitgenössischen Schilderung der Einweihung hieß es, daß der Bau in dem »recht nüchternen Stadtteil unserer Residenz uns in die phantastischen Wunder einer modernen Alhambra mit den anmutigen leichten Säulen, den schwunghaften Rundbogen, den farbenreichen Arabesken, dem mannigfaltigen, gegliederten Schnitzwerk mit all dem tausendfältigen Zauber des maurischen Styls einführt...«

Die neue Synagoge war einerseits bildhafter Ausdruck des gewachsenen Selbstbewußtseins der Berliner Juden, wie andererseits auch ihrer Anerkennung durch die Staatsgewalt. Nach der Reichsgründung 1871 und dem damit einhergehenden raumgreifenden Nationalismus und partiellen Antisemitismus hätte ein derart deutliches Zeichen wohl kaum noch gesetzt werden können. Alle nachfolgenden Synagogen fanden nur noch auf Hinterhöfen einen Platz.

Bei den Pogromen in der Nacht des 9. November 1938 (»Reichskristallnacht«) legten SA-Leute in der Vorhalle einen Brand, der jedoch von einem mutigen Polizeiinspektor und der von ihm angeforderten Feuerwehr gelöscht werden konnte. Der Beamte berief sich auf eine Verfügung von Kaiser Wilhelm I.: Wegen seiner Pracht war die größte Synagoge Europas mit ihren 3.000 Sitzplätzen schon frühzeitig unter Denkmalschutz gestellt worden.

1940 verfügten die Nazis die Einstellung der Gottesdienste. Die Wehrmacht nutzte die Synagoge als Lagerraum. Brandsätze verwüsteten die Synagoge in einer Bombennacht drei Jahre später. Erst jetzt wird die Synagoge wiederaufgebaut. Hier entsteht das Centrum Judaicum.

Mit der neuen Freiheit kamen Nutten und Zuhälter, belebten den vorher eher privaten Autostrich. Des Nachts zur Hauptverkehrszeit schiebt sich nun ein Auto nach dem anderen im Schleichtempo durch die sündige Meile — manchmal drehen die Freier durch und ihre Pneus auch. Das Auto wird zur Liebeshöhle, gleich nebenan, auf der brachliegenden Baustelle, wo man tagsüber über Tausende und Abertausende Pariser läuft. Doch das Idyll scheint endlich, der Aufschwung kündigt sich auch in dieser Straße in bester Citylage an: Ein schwedisches Bauunternehmen möchte gern eine riesige glasüberdachte Passage auf dem Freigelände zwischen Tacheles und Henschelverlag erbauen, doch entschieden ist noch nichts.

So geht es ihr noch nicht besser, der Oranienburger. Lauter ist es geworden, aufdringlicher und sicher auch unsicherer. In den übriggebliebenen kleinen Büdchen und Kneipen geht die Angst um, viele Besitzer können die Gewerbemieten nicht mehr bezahlen, und grüner ist es auch nicht geworden. Hannes Bahrmann

Nächste Folge am Samstag, 27. 4.: Die Pariser Straße.

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