: Ein Polizist verliert seine Identität
Der erste Tag in Cannes: Es ist kalt, die Filmwelt hüllt sich in ein zweites T-Shirt, und der einzig warme Platz ist im Kino/ Zum Auftakt läuft „Homicide“ von David Mamet ■ Aus Cannes Thierry Chervel
„Aber ich habe einen Eid geleistet“, gibt der Polizist in „Homicide“ zu bedenken, dem Eröffnungsfilm der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes. Unser Korrespondent in Cannes auch. Auf der Suche nach dem einen Film, dem er selbst die Goldene Palme verleihen würde, so schwört er, wird er in den nächsten zwölf Tagen dreißig- oder vierzigmal ins Kino gehen und täglich in der taz berichten. Seine Chancen sind nicht schlecht. Immerhin laufen neue Filme von Krzysztof Kieslowski, Spike Lee, Jaques Rivette, Chen Kaige, Maurice Pialat, Agnès Varda, Theo Angelopoulos und Akira Kurosawa, um nur Regisseure der offiziellen Reihe zu nennen. Anders als der Wettbewerb des Festivals von Berlin, der den großen Hollywood-Produktionen allzu gewogen ist, kann Cannes es sich offensichtlich leisten, die europäischen und amerikanischen Autorenfilmer zu bevorzugen. Die Filmindustrie reist sowieso an, um ihre alljährliche Messe abzuhalten. Auch das Wetter spielt mit: es ist schlecht. Da kann man nur ins Kino gehen.
Am Ende steht Robert Gold ohne alles da. Er war als jüdischer Polizist von seinem irischen Kollegen Tim und den anderen anerkannt, ja bewundert worden. Es gab keinen Antisemitismus im Morddezernat. Nur ein schwarzer Politiker hatte ihn einmal „Yidd“ geschimpft. Er jagte gefährliche Drogendealer. Dann wurde ihm dieser Mordfall an einer jüdischen alten Dame übertragen, und er kam einer jüdischen Bürgerwehr auf die Spur, die auf eigene Faust gegen Neonazi-Aktivitäten einschritt. Er entdeckte seine Sympathie für diese jüdischen „Helden“, legte eine Bombe für sie. Aber die Gruppe hatte ihn mit dem kalten Kalkül einer Geheimorganisation ausgenutzt. Und er hatte seine Einheit für sie im Stich gelassen, bei einem wichtigen Einsatz. Die Konsequenzen waren mörderisch. Tim war tot, und er, Gold, wurde entlassen. Seine Identität als Polizist war er los, seine Identität als Jude hatte er nicht gefunden.
Das wichtigste ist der Plot
Homicide (Morddezernat), David Mamets dritter Film, ist der Eröffnungsfilm der 44. Filmfestspiele von Cannes. Wie immer bei Mamet spielt Joe Mantegna die Hauptrolle. „Ich hoffe, es ist ein böser Film“, sagt Mamet. Ist es, aber reicht das? Wie schon in House of Games und Things Change scheint Mamet, der als Drehbuchautor bekannt wurde, der Plot wichtiger zu sein als der eigentliche Film. Sein Kino ist metaphysisch, nicht physisch. Rassismen, die man Amerika nennt, verlieren darüber ihre Dringlichkeit. Sie wirken wie herbeigeholt zum Zwecke einer Konstruktion, die vor allem um ihre eigene Eleganz bekümmert ist. So wie die Gewalt- und Actionszenen: funktionale Knotenpunkte in einer absolut programmierten Handlung. Sie haben kein chaotisches Potential, keine Schrecken. Als hätte Mamet Angst, die Übersicht zu verlieren. Manchmal schleicht sich der Verdacht ein, dies sei nicht Kunst, sondern Verlegenheit, nicht Film eben, sondern Drehbuch. Aber Homicide ist antimoralisch, im besten Sinne unamerikanisch, das ist zu begrüßen.
Es ist kalt in Cannes. Von der See her weht ein unangenehmer, böiger Wind. Die Filmwelt verlangt nach zusätzlichen Decken für die meist nur mit Laken bespannten Hotelbetten, trägt zwei T-Shirts übereinander und kauert sich ins Innere unbeheizter Cafés. Man erzählt sich über die Festivalfilme, was man sich über Filme erzählen kann, die man noch nicht gesehen hat.
In Spike Lees Jungle Fever soll es um einen schwarzen Architekten gehen, der sich in seine weiße Sekretärin verliebt. Auch Drogen sollen im Spiel sein, die bei Lee bisher immer ausgeklammert waren. Jaques Rivettes La belle noiseuse dauert vier Stunden. Michel Piccoli spielt einen Maler, Jane Birkin seine Frau, die schöne Emmanuelle Béart sein Modell. Deren Freund — oder Ex?, man ist ja nicht auf dem laufenden —, Roman Polanski, ist für dieses Jahr Jurypräsident.
Nichtsahnende Doppelgängerinnen
Krzysztof Kieslowskis La double vie de Véronique handelt von einer französischen Véronique und einer polnischen Weronika, die von derselben Schauspielerin dargestellt werden. Die Doppelgängerinnen wissen nichts voneinander, aber ihre Geschichten sind aufs engste ineinander verzahnt.
Robert de Niro spielt in Irwin Winklers Guilty by Suspicion einen Filmregisseur, der unter Senator McCarthy auf die Schwarze Liste gesetzt wird.
Akira Kurosawas Rhapsodie im August, der außer Wettbewerb läuft, ist in Amerika bereits auf helle Empörung gestoßen. Kurosawa wagt es tatsächlich, Nagasaki als ein Kriegsverbrechen darzustellen, ohne eigens darauf hinzuweisen, daß die Japaner Pearl Harbour bombardiert haben. Das den Amerikanern, die Kurosawa liebten, obwohl er Japaner ist.
Ein Gutes hat die Kälte in Cannes aber doch: die Cafés mögen unbeheizt sein — die Kinos sind klimatisiert.
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