: „Wer zurückkommt, ist bescheuert“
Millionen Sowjetbürger haben die Hoffnung auf Besserung der Lage verloren und betreiben ihre Emigration/ Die innersowjetische Fluchtbewegung wird den Exodus Richtung Westen verstärken/ Vor allem die Intelligenz wandert ab ■ Aus Moskau Klaus-H. Donath
„Wenn sie nur dort drüben blieben“, sagt Marina über einer Tasse Tee. Ihre Tochter Vera verbringt derzeit ein Austauschseminar an einer kalifornischen Universität. „Das hat doch alles keinen Sinn mehr hier. Bis es irgendwie besser wird, ist sie eine alte Frau.“ Dabei denkt Marina nicht einmal an die materiellen Lebensbedingungen. Auch beruflich habe ihre Tochter als Psychologin in Moskau keine Entfaltungsmöglichkeiten.
Längst sind es nicht mehr nur Juden, die der UdSSR den Rücken kehren. Auch immer mehr Russen entschließen sich zur wenigstens zeitweisen Emigration. Russen, denen man bisher eine fast mystische Heimatbindung nachsagte. 1989 erhielten 235.000 Sowjetbürger die Erlaubnis zur Ausreise. Im vergangenen Jahr waren es allein bis September 305.000 — vor Inkrafttreten eines Reisegesetzes. Noch dominieren die Angehörigen solcher Nationalitäten, die nicht „ins Leere“ fahren. Deutsche kehren in ihr „Stammland“ zurück, Armenier stützen sich auf Verbindungen zur weltweiten Diaspora. Eine Umfrage unter Jugendlichen ergab jedoch kürzlich: Fast 70 Prozent der 20- bis 35jährigen spielen mit dem Gedanken, ganz wegzugehen. Ein Viertel möchte auf jeden Fall für eine gewisse Zeit im Ausland arbeiten. Nur ganze fünf Prozent hält es zu Hause. Natürlich treten hier regionale Unterschiede auf. Der Drang zum Exodus zeigt sich besonders stark in den großen Städten Rußlands und den ländlichen Gebieten um Moskau. Die Jugend der asiatischen Republiken ist bodenständiger.
Genaue Zahlen über ausreisewillige Sowjetbürger liegen dennoch nicht vor. Ein wirkliches Bild liefern die Warteschlangen vor den Moskauer Botschaften der ersehnten Reiseländer, den Vertretungen der USA, der BRD, Kanadas und der skandinavischen Länder. Wochenlang kampieren die Antragsteller im Freien, rücken nicht vom Fleck oder hocken mit ihrer „Laufnummer“ auf den Ästen der Bäume. Jedesmal, wenn ein Mitarbeiter der Botschaft vor das Tor tritt, um die bewilligten Visa zu verkünden, stürzen Massen auf den Eingang zu. Für Sekunden stockt allen der Atem: „Werden wir diesmal dabei sein?“ Nein, wieder nicht. Und wider besseres Wissen die monotone Frage: „Wie hast du das nur so schnell geschafft?“ Auch dieser „Glückliche“ hat mehr als ein halbes Jahr gewartet...
50.000 Einreisevisa geben die USA jährlich an Sowjetbürger aus. Dem standen Ende 1990 aber allein 1.600.000 Anträge gegenüber. Inoffiziell wird schon heute eine Emigrantenzahl in zweistelliger Millionenhöhe gehandelt. Dabei wird die Ost-West-Migration wahrscheinlich durch eine rapide steigende innersowjetische Fluchtbewegung langfristig noch verstärkt. 600.000 Menschen haben — Folge der Nationalitätenkonflikte — in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen. Schon dieser Flüchtlingsandrang hat die Administration völlig überfordert.
In einem Seitengebäude des Moskauer Stadtparlaments, dem Mossowjet, richtete die Stadt vor geraumer Zeit eine Kommission ein, die sich speziell mit diesen Problemen befassen soll. Ihr Vorsitzender ist der Abgeordnete Alexander Melnikow. Der junge Deputierte ist zwar sehr bemüht um das Schicksal der Flüchtlinge. Doch trotz der Anstrengungen gelingt es ihm nicht, die Aussichtslosigkeit seiner Aufgabe zu überspielen: „Es fehlt uns an allem, aber vor allem am Geld. Unser größtes Problem ist, Wohnungen und Unterkünfte für die Menschen zu finden.“ Bisher hatte die Stadt die Neuankömmlinge in Wohnheimen, Pionierlagern und billigen Hotels untergebracht. Doch die Plätze deckten nur einen Bruchteil des Bedarfs. Melnikow spricht von 4.500 Flüchtlingen, die sich offiziell in Moskau registriert haben. Doch die Dunkelziffer leigt weit höher. Viele bringen gar nicht erst die Kraft und den Mut auf, sich bei den Behörden zu melden. Sie steigen bei Verwandten oder Bekannten ab.
Vor dem kleinen Hinterhofgebäude stürzen einige Wartende sofort auf den Journalisten zu, nachdem sie das Mikrofon entdeckt haben. In ihrer Verzweiflung schreien alle ihre Lebensgeschichte durcheinander. Mit tränenverzerrter Stimme zeigt eine ältere Frau aus Baku auf ihre dünnen Sommerschuhe, die einzigen, die sie habe. Da sie keine Aufenthaltserlaubnis für Moskau hat, erhält sie auch nicht die lebenswichtige „Visitka“. Nur noch mit dieser Karte läßt sich nämlich heute in Moskau einkaufen. Es ist ein Teufelskreis. Denn ohne Aufenthaltserlaubnis finden die Flüchtlinge auch keinen Arbeitsplatz. Und ohne Arbeit gibt es kein Geld. Ihnen wird nach Ankunft zwar eine befristete Arbeitsstelle angeboten, aber nach Ablauf der Zeit wollen sie die Betriebe nicht weiter beschäftigen. „Das könnte dann Ärger mit der Verwaltung geben“, meint eine jüngere Russin, ebenfalls aus Baku. Für alle Anwesenden steht fest, daß die Politiker an ihrem Schicksal keinen Anteil nehmen: „Keiner will uns.“ In die Beschimpfungen mischen sich auch Zweifel am eigenen Volk. „Was heißt das noch, ,unser Rußland‘“?
Die meisten der Betroffenen, vor allem die jüngeren, werden an die Türen westlicher Botschaften klopfen. Früher galt das mal als anrüchig. Ein Russe, der „Rossija“ den Rücken wandte, wurde von seinen Mitmenschen scheel angeschaut, mochte er für seinen Entschluß auch gute Gründe haben. Hier hat sich ein Bewußtseinswandel vollzogen, Ausdruck des Auseinanderfalls der russischen Gesellschaft. In einer Befragung des Allunionsinstituts für Meinungsforschung hegte kaum einer der Befragten noch Ressentiments gegenüber ausreisewilligen Mitbürgern. Im Gegenteil, mehr als ein Drittel sprach davon, am liebsten selber zu gehen. Nur wenn die Verteidigungsfähigkeit des Landes in Gefahr sei, meinte rund ein Fünftel, sollte der Staat dem Wunsch noch einen Riegel vorschieben können.
Der Ausreisewunsch hat schon groteske Züge angenommen. Heute gibt es immer mehr Russen, die versuchen, an Dokumente heranzukommen, die sie als Juden ausweisen. Das kostet einige tausend Rubel, aber Juden können eben heute relativ leicht ausreisen.
Der zu erwartende Exodus wird für die UdSSR verheerende Folgen haben. Vornehmlich besser ausgebildete Jugendliche und Akademiker wollen auswandern. Allein vergangenes Jahr kehrten 250 junge Wissenschaftler der Akademie der Wissenschaften nach einem Auslandsaufenthalt nicht mehr zurück. Alexej Isynmow, Mitarbeiter der Akadmie, macht hierfür die Politik verantwortlich, die die Menschen nicht im Land hält, ja sogar den Exodus zu stimulieren scheint. Es sind die scheinbar unwandelbaren Strukturen, ein die Menschen nach Dienstjahren belohnendes Seniorensystem, das die gebildeten jungen Leute verzweifeln läßt. Für eine Wohnung oder ein Auto gehen schon mal zwanzig Arbeitsjahre ins Land. „Daher“, so Isynmow, „hat fast jeder gebildete Moskauer im produktivsten Alter zwischen 15 und 40 Jahren darüber nachgedacht oder denkt darüber nach zu emigrieren.“
Vera ist aus Kalifornien zurückgekommen. Sie weiß egentlich nicht warum. Im nachhinein meint sie: „Wer zurückkommt, ist dumm.“
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