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SPUREN DER VERGANGENHEIT

■ Ein kiterarischer Streifzug durch Geschichte und Geschichten der Pyrenäen. Von Heinrich Mann über Kurt Tucholsky zu Fritz J. Raddatz

Ein literarischer Streifzug durch Geschichte und Geschichten der Pyrenäen. Von Heinrich Mann über

Kurt Tucholsky zu Fritz J. Raddatz

VONKARENPFUNDT

„Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer“ — so beginnt Heinrich Manns Roman Heinrich IV. Seine Winzigkeit erfährt der jugendliche Heinrich, der spätere Vierte, angesichts der Pyrenäen, die sich vor ihm auftürmen. Bei schönem Wetter liegt die Gebirgskette schon von fern gestochen scharf und dennoch unwirklich am Horizont; ein zackiger Riegel in der südfranzösischen Ebene, von dessen Spitzen der ewige Schnee silbrig glänzt. Aus der Brandung des Atlantiks steigen die Pyrenäen auf, erstrecken sich über 430 Kilometer ostwärts und recken sich bis in 3.400 Meter Höhe, um dann ins Mittelmeer zu tauchen.

„Von der Terrasse der Place Royale in Pau über die Ebene zu sehen — auf die Gebirgskette der Pyrenäen: das ist wie eine Symphonie in A-Dur. Mit Graten und Spitzen, hohen Nasen und geraden Linien steht weit die große Wand der Berge“, schrieb Kurt Tucholsky in der wohl schönsten deutschsprachigen Liebeserklärung an das Gebirge über die Geburtsstadt Heinrichs IV. In einem Brief an Heinrich Mann hatte der in Frankreich lebende deutsche Journalist von seiner Reise im Herbst 1925 berichtet: „Ich habe zwei Monate in den Pyrenäen gesteckt — nicht ohne in einer bösen Waldschlucht mir das Schienbein glorios aufgeschlagen zu haben — und dann haben sie mich in Lourdes operiert (ohne Wunder). Als ich wieder nach Hause kam, mußte ich gleich eine kleine Arbeit fertig machen.“ 1927 erschien das Pyrenäenbuch.

Zu Beginn seiner Fahrt mußte Tucholsky von seinen Erinnerungen aus dem Geographieunterricht Abschied nehmen. „Pyrenäen — das war so eine rostbraune Sache auf der sonst grünen und schwarzen Karte, darin ein paar Bergkleckse standen, rechts und links gefiel sich die Karte in Blau, das war das Meer...“

Für die Bewohner beiderseits hatten die Täler des Hochgebirgszugs seit jeher mehr Verbindendes denn Trennendes. Wie für manchen anderen wäre auch für Tucholsky beinahe die seit dem Pyrenäenfrieden im Jahre 1659 gezogene Trennlinie zwischen Frankreich und Spanien zum Hindernis geworden. Doch er konnte sich den notwendigen Paß beschaffen und seine Eindrücke liebevoll-ironisch oder bissig beschreiben: von der Einsamkeit des Stieres, der — nicht ahnend, daß er bald in der Arena stehen wird — auf den saftigen dunkelgrünen Berghängen grast; von Biarritz, diesem Kurort der Reichen; vom baskischen Nationalsport — „La pelote ist für den Basken, was für den deutschen Stammtischler der Skat“; von dem Wunder-Rummel im Wallfahrtsort Lourdes; von den Ochsen und den Eseln, auf denen er in die Berge schaukelte; vom Nationalstolz der Franzosen — „Der Cirque de Gavarnie ist nicht nur ein Gebirgskessel, sondern eine nationale Zwangsvorstellung...“ und von einsamen Bergtouren: „Die Schlucht wurde immer schluchtiger, die Felsen immer felsiger. Nun standen die Wände etwa zweihundert Meter hoch und in der Mitte ich.“

Tucholskys Beschreibungen sind nicht die eines Unbeteiligten, er denkt sich selbst immer mit. Sein Buch schließt mit einer Liebeserklärung an Frankreich, dieses gelobte Land der Exilierten. Er nahm sich zu früh das Leben, um zu erfahren, wie dieses Bollwerk gegen den Faschismus fiel, als Frankreich im Juni 1940 vor Hitler-Deutschland kapitulierte und sich im Artikel 19 des Waffenstillstandsabkommens verpflichtete, deutsche Flüchtlinge „auf Verlangen“ auszuliefern.

Viele Menschen hofften, sich über die Grenze retten zu können. Hatten noch 1939 Zehntausende von spanischen Republikanern die Pyrenäen auf der Flucht vor dem Franco- Regime überquert, so versuchten kaum ein Jahr später deutsche Antifaschisten, auf mühsamen Schleichwegen über Spanien und Portugal ins rettende Exil zu gelangen.

Heinrich Mann schildert in seiner Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt seinen Fluchtweg: „Bald verlor sich der Weg im Gestrüpp. Von einem Steinblock zum anderen mußten wir die leidliche Verbindung finden. Am besten versetzte man sich in die Gewohnheit der Ziegen, die hier sonst verkehrten. Heute, am Sonntag, blieben sie zu Hause.“

Auch andere entkamen: Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Hermann Kesten, Walter Mehring, Alfred Polgar und viele weniger berühmte Antifaschisten. Ihre Wege beschrieb der amerikanische Journalist Varian Fry, der dreizehn Monate lang beim Emergency Rescue Committee in Marseille arbeitete, um den Flüchtlingen zu — echten oder gefälschten — Papieren zu verhelfen, in Auslieferung auf Verlangen.

An seinem ersten Abend in Marseille traf Fry auf den tschechischen Schriftsteller Franz Werfel, der auf ihn den Eindruck eines „zur Hälfte gefüllten Mehlsacks“ machte. Werfel und seine Frau waren ausgesprochen lauffaul: „Daß sie über die Pyrenäen klettern sollten, schien undenkbar.“ Fünf Wochen lang hatte sich das Ehepaar mühsam im kleinen Wallfahrtsort Lourdes in den Zentralpyrenäen versteckt. Ihre Lage war so verzweifelt, daß Werfel — obwohl er Jude war — das Gelübde ablegte, über die Heilige Bernadette, der viele Jahrzehnte zuvor in einer Gebirgsgrotte die Jungfrau erschienen war, ein Buch zu schreiben. Die Werfels gingen und schafften den gefährlichen Weg hinüber ins rettende Amerika — übrigens gemeinsam mit Heinrich Mann.

1941 erschien in einem Stockholmer Verlag Das Lied von Bernadette, ein „epischer Gesang über eine kleine Heilige aus den Pyrenäen und die Folge von Erscheinungen, Wundern, Leiden, Verfolgungen, Kämpfen des Glaubens und Zweifels“, wie Franz Werfel selber schrieb. Der Roman über das unbedarfte Mädchen Bernadette Soubirous ist auch eine präzise Beschreibung des Lebens in einem verschlafenen Pyrenäendorf in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit seinen armen und reichen Einwohnern, den Kämpfen zwischen der geistlichen und der weltlichen Macht, dem Fanatismus, den Intrigen, der Rückständigkeit, dem Kampf zwischen mechanistischem und kirchlichem Weltbild, zwischen Monarchisten und Freidenkern.

Einer, der den Weg aus Frankreich ins Exil nicht schaffte, war der Philosoph Walter Benjamin. Lisa Fittko, die mit ihrem Mann zusammen Hunderte von der Auslieferung bedrohter Flüchtlinge über die sogenannte F-Route durch die Pyrenäen begleitete, beschrieb ihre Erinnerungen in ihrem Bericht Mein Weg über die Pyrenäen, einer nüchtern klingenden Odyssee einer mutigen Widerstandskämpferin. „Im Weinberg war das erste und einzige Mal, daß Benjamin schlappmachte. Genauer gesagt, er versuchte die Steigung zu nehmen, schaffte es nicht und erklärte in gesetzten Worten, daß dies seine Kräfte übersteige. Jetzt saß ich hoch in den Pyrenäen, aß ein Stück Brot und schob Benjamin die Tomaten zu, als er fragte: ,Gnädige Frau, wenn Sie gestatten, darf ich mich bedienen?‘“ Einen Tag später war Benjamin tot. Als er in Spanien angekommen war, schickten ihn die Grenzer trotz seines spanischen Durchreisevisums wieder zurück. Er nahm sich noch in der gleichen Nacht das Leben.

Der Journalist Fritz J. Raddatz, der den Spuren Kurt Tucholskys gefolgt ist, hat das angebliche Grab des Philosophen in Port Bou besucht, „ein Platz von pathetischer Schönheit und dadurch doppelt bedrückend“. Dieser kleine Abstecher ist neben der Besichtigung einiger Internierungslager in den Pyrenäen die einzige Eigenleistung des angeblichen Spurensuchers. Seine Pyrenäenreise im Herbst ist nicht mehr als eine Montage aus Textstellen Tucholskys und banalen Kommentaren, garniert mit etwas angelesenem Wissen aus dem Reiseführer. Seinem Anspruch, Tucholskys Bericht etwas entgegen- oder hinzuzusetzen, wird er nicht gerecht. Dabei stilisiert sich Raddatz in der Einleitung seines Buches in einem Wortspiel zum Nachfolger des großen Journalisten, dem er „nachfahren“ wolle: „Ein schönes Verbum zum (unangemessenen?) Substantiv.“ Wo kaum eigene Gedanken zu lesen sind, wirkt auch die Distanzierung vom Vorbild — schon zu Beginn der Reise habe er „einen Unterschied der ästhetischen Sensibilität“ festgestellt, nur noch eitel. Tucholsky selbst war bescheidener: „Ich weiß so viel aus Büchern über die Pyrenäen“, sagt er am Ende. „Aber was habe ich gesehen? Was kann überhaupt ein Fremder sehen?“

Kurt Tucholsky: Ein Pyrenäenbuch , rororo, 6,80 DM

Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen , Hanser, vergriffen

Franz Werfel: Das Lied von Bernadette , Fischer, 19,80 DM

Lisa Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen , dtv, 12,80 DM

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst , Rowohlt, 25 DM

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