NACHRUF
: Kreative Rekonstruktion

■ Der Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller starb am Samstag in München

Er stand im Frack am Telefon und sprach geduldig und geläufig über den Wittgenstein der ersten Phase. Über die Verwendung des Wörtchens oder und die Frage, ob es sich um ein und/oder oder ein entweder/ oder handle, wenn er es in einem Aufsatz über den „Tractatus“ verwende. Der Anruf einer Studentin, die am nächsten Tag über dieses Thema geprüft wurde und sich auf sein Haupt- und Standardwerk Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie gläubig bezog, erregte nicht seinen Zorn, sondern nur sein Interesse, unterlegt von einer Freundlichkeit den Lernenden gegenüber, wie sie an deutschen Universitäten solitär zu nennen ist. Erst nach einer halben Stunde angeregter Debatte sagte Wolfgang Stegmüller, leise und leicht amüsiert: „Ich unterbreche das Gespräch nur ungern... Aber leider muß ich in einer Viertelstunde einen Vortrag halten und stehe hier im Frack am Telefon, und meine Frau wartet schon am Taxi...“

Wolfgang Stegmüller, Wissenschaftstheoretiker an der Universität München, war einer der ganz wenigen, deren Intelligenz und Können dem Willen zur Vermittlung nicht entgegenstanden, sondern sich mit ihm verbanden. Seine Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 1951, als er selbst erst 28 Jahre alt war, erschienen, sind bis heute unerreicht: eine ebenso luzide wie eindringliche Darstellung der auseinanderdriftenden Wege in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sein Thema war die Gabelung des philosophischen Denkens in lebensphilosophische (phänomänologische, spätmetaphysische, psychologisch inspirierte) und analytische Richtungen, und niemand hat seither eine so weite Spanne des Denkens in derartiger Klarheit und Einsicht begreifbar zu machen vermocht. Eine Tradition der modernen Philosophie allerdings ließ er links liegen: die marxistische und ihre Fortsetzung in der Frankfurter Schule, überhaupt alles soziologisch inspirierte Philosophieren, für das er sich als nicht zuständig erklärte — und bei dem er sich also, der Fairneß des Lehrens verpflichtet, enthielt.

Nach dieser frühen Veröffentlichung wandte er sich ganz der Analytischen Philosophie zu, die erste Rezeption dieses Denkens in der Bundesrepublik ist auf seine Arbeit zurückzuführen. Sein siebenbändiges Werk Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie ist, wie die Hauptströmungen, Ausdruck desselben großen und einzigartigen Könnens: der kreativen Rekonstruktion. Wolfgang Stegmüller starb, zwei Tage vor seinem 68. Geburtstag, am Samstag morgen in seinem Haus in Gräfelfing bei München. es