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Das Beichtgeheimnis aus dem Müll

■ Florian Merkel zeigt »Fundbilder« in der Fotogalerie der Brotfabrik

Wir schmeißen unsere Vergangenheit auf den Müll!« Paul, zwölfjähriger Schüler aus einer sächsischen Kleinstadt, knallt diesen Satz zwischen Tee und Kuchen auf den Tisch. Als ob man mit zwölf nicht schon genug Identitätsprobleme hätte, stöbert er jeden Nachmittag nach den Zeugnissen einer gewaltsam verdrängten nationalen Identität auf der örtlichen Müllkippe: Blumentöpfe, die die ansässige Ziegelei plötzlich als Ausschuß wegwirft, Lehrbücher zum Fach Staatsbürgerkunde, Verbotsschilder, Schlachtermesser und rotlederne Brigadebücher der Metzger schleppte er nach Haus.

Mit dem Stolz, mit dem andere Kinder vielleicht ihren Seeräuberschatz betrachten, präsentiert er das Prunkstück seiner Beute, ein Protokollbuch der Polizei von 89/90: Eintragungen über Fahren mit unangepaßter Geschwindigkeit und ideologische Bildungsaufgaben wechseln sich mit Notizen über Familienprügeleien und den sich häufenden Nachrichten über unerlaubte Grenzübertritte ab. Die ordentlichen Handschriften zeugen von den Menschen, die diese Akte der Kriminalisierung vertraten.

Das Tempo, in dem historische Dokumente auf dem Abfall landen, hat sich in den neuen Ländern abrupt beschleunigt. An Pauls privates historisches Museum mußte ich anläßlich der »Fundbilder« in der Fotogalerie der Brotfabrik denken: 1978 entdeckte der Fotograf Florian Merkel auf einer Müllkippe bei Halle private Fotografien aus den dreißiger und fünfziger Jahren. Weniger aktuell und spektakulär als die jetzt so offensichtlich entsorgten Materialien zur jüngsten Geschichte, interessierten auch ihn die Erinnerungsfotos als eine Form der Reaktion auf gesellschaftliches Geschehen.

Vergrößert hat Merkel die Fotografien eines jungen Mannes in Wehrmachtsuniform, der sich en face und im Profil aufrecht stehend vor dem Gartenzaun aufnehmen ließ, als gelte es, erkennungsdienstliche Forderungen zu erfüllen. Als Randleiste kleiner Bilder dagegen hat Merkel die Fotos belassen, die denselben jungen Mann privat im eleganten Anzug oder in der Badehose am Strand zeigen. Auf einem anderen Fundstück aus der gleichen Zeit nehmen auf den Albumblättern ein Soldat und ein Schäferhund einen gleichwertigen repräsentativen Platz ein. Beschriftungen auf den Albumsblättern stellen die Identifikation zwischen der Szene und den anonymen ehemaligen Besitzern der Fotos her. Ob die Wehrmachtsfotos 1978 zufällig auf den Müll flogen, oder als inkriminierende Zeugen der Vergangenheit abgestoßen wurden, bleibt der Spekulation überlassen.

»Was auf dieser Welt, welcher Roman hätte die epische Breite eines Fotoalbums?« seufzt der Erzähler in Günter Grass' Roman Die Blechtrommel, der ein Familienalbum als Quelle seiner Fabeln wie einen Schatz hütet. Auch in Merkels Auswahl tauchen sie auf als Gegenpart der militärischen Inszenierungen: die kleinen Mädchen mit den riesigen Schultüten, Zeltplätze, Kostümfeste, Freiluft- und Körperkultur. Daneben aber immer wieder kollektiv begangene Feste: Den Maifeiern der dreißiger Jahre folgt ein Aufzug zum Erntedankfest 1953. Den geordneten Massen stehen Bilder von Demonstranten für die Wiedervereinigung und die 40-Stunden-Woche vor dem Rathaus Schöneberg aus den fünfziger Jahren gegenüber. Dramatisch hat der Fotograf erst die Rathausuhr, deren Zeiger auf 5 nach 12 stehen, schräg ins Bild gesetzt.

»Deutschland, Deutschland über alles« nannten Kurt Tucholsky und John Heartfield 1929 ein Montagebuch, das auf den Bildern vieler Fotografen beruhte. Tucholskys Kommentar zur Wühlarbeit durch das zugleich kollektive und private Erinnerungsmaterial hat in bezug auf die Bildchen in der Brotfabrik nichts von seiner Gültigkeit verloren: »[...] wenn du die Bilder ein paar Minuten ansiehst, dann fangen sie an zu sprechen. Die Leute, die darauf zu sehen sind, halten geduldig still — du kannst sie in aller Muße betrachten. Und wenn du ganz in das Bild hineingekrochen bist, dann sprechen sie. Sie erzählen dir ihr Leben. Sie sagen dir ihre politische Gesinnung. Sie beichten. Sie klagen an. Sie lachen. Sie stöhnen vor Müdigkeit. Sie reißen ihr Herz auf.« Katrin Bettina Müller

Fundbilder in der Fotogalerie in der Brotfabrik, Heinersdorfer Straße 58, 1120 Berlin, bis zum 30. Juni, Mi.-So. jeweils 15-20 Uhr.

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