: Irgendwohin. Irgendwoher. Wir nicht.
Zum diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ■ Von Mathias Bröckers
Es gibt Dinge im Leben eines Dichters, die man nicht tut: Bei der Naßrasur die 'Zeit‘ lesen, im Juni nach Klagenfurt fahren...“ (Wolfgang Siegmund)
„Das organisierte Ausblödeln von Schriftstellerinnen und Schrifstellern ist abzulehnen. Gleichermaßen ungustiös ist die posthume Verwertung der Ingeborg Bachmann als Schutzpatronin der klagenfurter Literaturfunktionärsexhibition.“ (Herbert. J. Wimmer)
„In Ansehung dieses durch und durch widerlichen Spektakels drängt sich mir seit langem die Frage auf, ob nicht das Standrecht in der Literatur einzuführen sei.“ (Werner Kofler)
„Mit ihren garantiert treibgasfreien Sprühkanonen (denn die Natur schützen sie ja!) sprühen sie den Leichnam der Ingeborg Bachmann in die berühmten ,Millionen Haushalte‘, auf die Millionen Bildschirme, mit denen sie stets zu prahlen verstehen, während sie noch mit vollem Mund den toten Körper kauen. Man kann alles verwerten. Es ist Mord.“ (Elfriede Jelinek)
„Schön ist der See, willkommen ist auch der Tourist mit der Mark; es ist vielleicht unschön zu bemerken, daß die Klagenfurter Veranstaltung etwas Provinzielles hat, nämlich den Stallgeruch des ritualisierten, durch und durch normierten bundesdeutschen Kulturbetriebs.“ (Franz Schuh)
Im 15. Jahr des Bachmann-Preises in Klagenfurt hat sich die Opposition wieder einmal formiert — das Grazer „Forum Stadtpark“ hatte 25 österreichische Autorinnen und Autoren um ein Statement gebeten, und die Sentenzen der Verachtung (s.o.) wurden zu Beginn der Veranstaltung verteilt. Im Verlauf des Wettlesens zeigte sich allerdings, daß derlei Proteste in Zukunft überflüssig werden könnten — so viele schlechte, indiskutable Texte wie in diesem Jahr gab es noch nie, und wenn dieser Trend sich fortsetzt, wird der Bewerb mangels Masse schlicht von selbst einschlafen. Nicht wer einen Preis kriegt, war nach Abschluß der Lesungen die Frage, sondern nur wie die insgesamt sechs Auszeichnungen und Stipendien verteilt werden — mehr als eine Handvoll brauchbarer Talentproben war unter den 22 Beiträgen einfach nicht vorhanden. Und wäre nicht die in Berlin lebende Türkin Emine Sevgi Özdamar gewesen mit ihrer Erzählung Das Leben ist eine Karawanserei — „hat zwei Türen, aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus“, einer gelungenen Mischung aus Naivität und Intellekt, orientalischem Märchen und abendländischem Bewußtsein, die Jury hätte am Ende auf einen Hauptpreis verzichten und einen Bachmann-Jackpot 1992 ausrufen müssen. Denn dem Zweitplazierten, dem Schweizer Urs Allemann, den Ingeborg-Bachmann-Preis zuzusprechen, hätte aus dem Skandälchen einen Skandal gemacht: „Ich ficke Babys“ lautete der erste Satz seines Textes, und nachdem Allemann eine halbe Stunde vorgelesen hatte, wie das im Detail vor sich geht, kam in den bis dahin eher müde plätschernden Literatur-Klassenausflug am Wörthersee endlich ein bißchen Erregung.
„Ich ficke Babys. Um mein Bett stehen Zainen. Es wimmelt von Babys darin. Alle da. Seit jeher. Für immer. Wie ich. Auch ich bin da. Bei andern wärs vermutlich anders. Andere würden mal gehen. Irgendwohin. Irgendwoher. Wir nicht. Wir sind da. Die Babys in ihren Zainen. Ich auf meinem Bett. Mit geschlossenen Augen. Greif ich ins Gewimmel. Fisch mir eines. Ficks. Werfs zu den anderen zurück. Alle nackt. Alle da. Keine Namen. [...] Es geht keusch zu in meiner Mansarde. Schaben. Reiben. Ich habe Lust, eine keusche Geschichte zu schreiben. Der Mittelfinger. Das Poloch. Die Fontanelle. Der zahnlos speichelnde Mund. Wo dring ich ein. Wo rutsch ich rein. Die mir entgegen aufgerissenen Poren. Mein keuscher Ehrgeiz. Mit geschlossenen Augen. Ertasten. Erobern. Jede Babypore ein Loch fürs Leben.“ So ging es weiter, eine halbe Stunde lang. Schon nach den ersten Sätzen Allemanns verließ Roberto Cazzola unter Protest seinen Juroren-Platz — und entpuppte sich im folgenden weniger als der sympathische Lektor des Turiner Verlags Einaudi, denn als blinder Inquisitor des päpstlichen 'Osservatore Romano‘. Er monierte die mangelnde Ethik und Moral der Jury, welche der Ästhetisierung von Gewalt Vorschub leiste und stellte seine Preisrichterkollegen Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler, Andreas Isenschmid und Peter von Matt namentlich der Inquisition anheim. Die vier hatten den „Babyficker“ für einen Preis vorgeschlagen — mit dem Argument, daß es sich bei diesem Text nicht um Kinder-, sondern um Literaturschändung und bei den Babys eher um Kopfgeburten als um leibhaftig traktierte Körper handelt: eine „eklatant surrealistische Geschichte“ (von Matt), deren „kannibalistisch-genitaler Fanatismus“ (Löffler) als „Racheakt an der Literatur“ verstanden werden müsse.
Es war wohl eher ein Racheakt am Literatur-Pantheon, in das ein Autor unter allen Umständen aufgenommen werden möchte und dazu auch zum allerletzten Mittel, zum Gipfel der Perversion greift — das historische Sexmonster Gilles de Rais ist geradewegs nichts, verglichen mit dem Säuglingsverbrauch in der Allemannschen Mansarde. Und doch, so verrückt es sich anhört, es ist gerade die fehlende Authentizität, die diesen surrealen Megaporno zu dem vielleicht verlogensten Stück Literatur macht, das bei diesem mit Eitelkeiten nun wahrlich nicht knausernden Literatur-Jahrmarkt geboten wurde.
Der Autor, Jahrgang 1948, hat Soziologie und Sozialpsychologie studiert und als Feuilleton-Redakteur der 'Baseler Zeitung‘ den Bachmann-Bewerb seit Jahren beobachtet. 1987 wechselte er auf die andere Seite des Tresens, las eine quasi-experimentelle Luftballon-Erzählung und rutschte nur knapp an einem Preis vorbei. In diesem Jahr nun hat es endlich geklappt — das quasi-experimentelle, durchaus virtuose Sprach-Stakkato wurde thematisch statt mit luftigen Ballons mit blutigem Unterleib gefüllt, und die Jury war, abgesehen von ihrem allzu katholischen Schwänzchen, begeistert. Kaum einer, der nicht die Risikofreude und den „Mut“ des Autors lobte — dabei konnte doch eigentlich gar nichts schiefgehen: Wäre die Jury mit dem moralischen Verdikt „Menschenverachtung“ zur Disqualifikation geschritten, hätte sie sich in Sachen Ästhetik völlig blamiert, und Allemann hätte als untragbarer Provo-Künstler bestens dagestanden. So hat man ihn ins Pantheon aufgenommen, darf sich als Juror auf die libertäre Schweinehund-Schulter klopfen, daß ja doch wieder mal die Kunst über die Moral gesiegt habe — und der Autor zieht mit 15.000 DM zurück ins Basler Ländle. Daß sich sein „Babyficker“ — ein 80-Seiten-Buch soll's werden — glänzend verkaufen wird, schon wegen des Titels, ist kaum eine Frage.
Trotzdem paßt nichts zusammen: dieser zottelbärtige Strebertyp aus dem dumpfen Basel und die Ausgeburt des Bösen, das ist, wie wenn Hannes Wader plötzlich satanischen Techno-Punk spielte — nicht weil ihm danach ist, sondern weil er sonst nicht in die Hitparade kommt.
Wäre so was unter Reich-Ranicki nicht passiert? Leider fand das Diner zum 15. Jubiläum, zu dem er eigens eingeflogen wurde, einen Tag vor der „Babyficker“-Lesung statt, so daß sich der allseits geliebte Poltergeist der Literaturkritik dazu noch nicht äußern konnte. Dafür hatte er aber ein durchaus identisches Thema mitgebracht, vom dem er beim Klatsch zu Tisch partout nicht lassen konnte: Daß der eben zum 85. Laudatierte, hochmögende Wolfgang Koeppen tatsächlich eine gerade mal 19jährige Freundin habe. Ob etwa dies die Ursache für das seit Jahrzehnten ausbleibende Koeppen- Großwerk sei, drang vom Prominententisch leider nicht bis an die Enden der Tafel durch. Genausowenig wie die genaue Anzahl der zig Millionen, mit der Unseld senior seinen Filius aus dem Suhrkamp-Verlag herausgekauft hat.
Daß er noch einmal in die Jury zurückkehre, hat Marcel Reich-Ranicki im Interview mit der lokalen 'Kleinen Zeitung‘ ausgeschlossen. Auch Karasek und Löffler wollen nicht mehr, und der veranstaltende ORF wird sich im nächsten Jahr einiges überlegen müssen. Nicht nur was den Richtertisch, sondern vor allem, was die Auswahlkriterien der Lesenden angeht. Nur bei einem, Peter Wawerzinek aus (Ost-)Berlin — am Ende mit einem Stipendium (6.000 DM) belohnt, lohnte es sich, ihn noch einmal einzuladen: Mit seinem versoffenen Anarcho-Flaneur Moppel Schappik eroberte Wawerzinek verdientermaßen den Publikums- Oscar. Weitere Ehrungen gingen an Marcel Beyer aus Köln (Flughunde), die Schweizerin Theres Roth-Hunkeler (Frieda) und den Wortschmied Hubert Konrad Frank, mit der an eine badensische Version von Finnegans Wake gemahnenden Hommage an Hermann Burger.
Und das war's denn auch schon aus der „heimlichen Hauptstadt der deutschen Literatur“. Nur 18 Kilometer entfernt bombardierten serbische MiG-Bomber den Grenzübergang — Freiheit für Slowenien, wo immer es auch liegt!
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