Mit Sagrotan ins Himmelreich Gottes

■ Massentaufe auf dem Kongreß »Freiheitliche Menschen« der Zeugen Jehovas am Wochenende im Jahn-Sportstadion/ In Berlin gibt es heute rund 6.000 Anhänger der Sekte/ Reger Zulauf vor allem in den neuen Bundesländern

Prenzlauer Berg. Wer kennt sie nicht, die Zeugen Jehovas, die Frauen und Männer mit dem 'Wachturm‘ in der Hand — immer bereit, die gute Botschaft zu verkünden, daß das »Königreich« nah ist und die Erde bald wieder ein Paradies wird, weil Gott das gegenwärtige System der schlechten Regierungen in einer gewaltigen Schlacht vernichten wird. Und dieser »Weltuntergang der Nationen« wird bald kommen, glauben die Verkünder des Königreiches; »noch zu meinen Lebzeiten«, sagt der Berliner Pressesprecher der Zeugen Jehovas, Peter Meyer, und er ist sechsundsechzig. Denn die »Endzeit« hat begonnen, exakt im August 1914. Den Absturz in diese globale Katastrophe mit all ihren Folgen bis heute hat der amerikanische Begründer der »Wachturm Bibel und Traktat-Gesellschaft«, Charles Taze Russell, schließlich schon 1876 termingerecht und aufgrund gründlicher Bibelexegese vorausgesagt. Lange kann Gott die Verbrechen an der Erde wirklich nicht mehr hinnehmen, verkündet der 'Wachturm‘ jeden Monat. Bevor die Bösen sie ganz zerstören, wird Gott mit einem furchtbaren Gericht eingreifen, und übrig auf dem gereinigten Planeten werden auf ewig die bleiben, die vor diesem letzten Gericht auf Seiten des Königreich Gottes unter Christi standen. Das sind im Laufe der Menschheitsgeschichte Milliarden geworden, in diesem Jahrhundert aber nur die Zeugen Jehovas, so ihr Dogma.

Massentaufe im Jahn-Stadion

Weltweit sind das heute knapp vier Millionen, in Berlin rund 6.000 und in den Ländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern noch einmal 6.000 Überlebende. Vorausgesetzt, sie halten sich von der Welt fern und allen ihren Lastern — neben den üblichen auch Hurerei, Homosexualität, Rauchen, Alkohol und der »Mißbrauch des Blutes« durch Infusionen. Am vergangenen Sonnabend hat sich die Zahl der Geretteten um weitere 200 Menschen erhöht: Durch eine Massentaufe während des bezirklichen Jahreskongresses »Freiheitliche Menschen«, eingeleitet mit einer halbstündigen Taufpredigt und einem über Mikrophon ins weite Stadium übertragenen kräftigen »Ja« der Täuflinge. Und beendet durch ein völliges Untertauchen in das mit Sagrotan versetzte Taufwasser. Der heilige Akt fand nicht vor den Augen der 12.300 Kongreßteilnahmer statt, sondern abgeschirmt von den Massen in den zu Taufbecken umfunktionierten Duschkabinen des Friedrich-Jahn Sportstadions am Prenzlauer Berg.

Trotz dieser profanen Umgebung bewegte er die Gläubigen tief. Mit Tränen in den Augen zogen viele Männer und Frauen von ihren Ehrenplätzen auf der Tribüne in die gekachelten Räume, wenige Meter vor dem Ereignis von Ordnern nach Geschlechtern getrennt. Es stand schon in der Einladung, daß die, die sich zu Christen bekennen und fortan Jehova, also Gott, dienen wollen, Badeanzüge und Handtücher mitzubringen haben. Dem Aufruf folgten Menschen, die sich äußerlich in nichts von den Sonnenhungrigen im Prinzenbad oder Müggelsee unterscheiden. Da gab es die zittrige alte Frau, gestützt durch Krücken und die braungebrannte 18jährige im knallgelben superknappen Stretchkostüm, die hennarotgefärbten Haare bis zur Hüfte fallend. Die Täufer, vier Männer in kurzen Sporthosen und in T-Shirts, tauchten unterschiedslos jede(n) rückwärts bis über die Haarwurzel in das desinfizierte Wasser. Die Täuflinge hielten sich die Nase zu, und erschienen nach Sekunden als »ordinierte EvangeliumsdienerInnen« wieder: bereit, der Familie, den Freunden, der Öffentlichkeit zu dienen, die Bibel zu predigen, vor der Welt zu warnen und die Verheißungen zu verkünden.

Und so gibt es seit Sonnabend in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern 200 Verkünder mehr, die systematisch und von den meisten Menschen wegen ihrer Intoleranz belächelt, missionierend von Haustür zu Haustür ziehen werden. Insbesondere in den neuen Bundesländern erhoffen sich die Bibel»forscher« Aufwind, denn die offene Missionsarbeit wurde erst mit der Wende möglich. Unter der Regierung Modrow erhielten die Zeugen Jehovas im März 1990 die Zulassung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts. Davor waren sie verboten, erst wie überall in Deutschland ab 1933 von den Nationalsozialisten, später von den Sozialisten. Unter Hitler litten und starben sie in den Konzentrationslagern, als Weltanschauungsgegner kenntlich gemacht durch den rot-violetten Winkel. Unter Ulbricht wanderten sie in die Gefängnisse, bis zum Mauerbau wegen angeblichen Spionagetätigkeiten, Boykotthetzen oder Sabotage, später als Wehrdienstverweigerer.

Erwartung der Apokalypse

Sie hielten alle Leiden aus, immer in Erwartung des göttlichen Weltgerichtes und der anschließenden Auferstehung des Paradieses auf Erden. Und weil alle staatlichen Organisationen Satanswerke waren und sind, beugen sie sich noch heute vor keiner irdischen Macht, sondern nur vor der Bibel und der Auslegung, daß das Königreich eine wirkliche Regierung ist, die vom Himmel über die Erde herrschen wird. Regiert wird dieses Reich von Christus, aber nicht weil er der Sohn Gottes ist — die Zeugen Jehovas halten die Lehre der Dreieinigkeit für eine Verirrung — sondern weil er die vollkommene menschliche Schöpfung Gottes ist. Im Königreich, so verstehen sie die Offenbarungen, wird Jesus aber nicht alleine regieren, sondern zusammen mit 144.000 Mitregenten.

Die meisten dieser Mitherrscher stehen schon fest, es sind die Apostel und ihre Jünger und die Jünger der Jünger. Auch deshalb wird das gegenwärtige System bald zu einem Ende kommen müssen, denn das Boot im Himmel ist sozusagen bald voll, sagt der Pressesprecher Peter Meyer. Weltweit, weiß er, machen sich um 8.000 Zeugen Jehovas diese »himmlische Hoffnung«. Einer von ihnen lebe in Berlin. Offenbart habe er sich dadurch, daß er bei dem jährlichen Abendmahl am Todestag Christi den Wein getrunken und das Brot gegessen habe. Aber auch das Leben auf der »gereinigten Erde« wird, so versprechen es die Bibelforscher, für die Untertanen wunderbar und nie langweilig werden.

Jutta S., Postangestellte im Wedding, 29 Jahre alt und frisch getauft, hat sehr präzise Vorstellungen vom Paradies. »Wir werden die Früchte essen, die wir selbst gepflanzt haben«, sagt sie und »meine zahlreichen Kinder werden auf der Weide mit den Schafen spielen«. Ökologische Katastrophen, Rassen-, Religions- und Nationalitätenkonflikte gehören dann der Vergangenheit an. Alle Menschen glauben an den einen wahren Gott, die Zeit der ökumenischen Verirrungen wird vorbei sein — endlich wird man nur unter sich sein. Kleine Erfolge, sagt Peter Meyer, haben die Zeugen Jehovas auch schon vor dem Endsieg Gottes.

Seit kurzem gibt es in Berlin eine Gruppe arabischer Bibelforscher, und auch ein konvertierter Jude preist dreimal pro Woche das Königreich in den Versammlungsräumen. Diese heißen »Königsreichsäle«, und davon gibt es in Berlin 30. Leider noch keinen im Ostteil, sagt Meyer, obwohl er nötig wäre, denn vielleicht kommt der Weltuntergang ja erst in einigen Jahren. Anita Kugler