: Jelinek bebildert
■ Das freie Tanztheater "mind the gap" zeigt "Reiche"
KULTURDIENSTAG, 17.9.91
Die Akademie der Künste zu Berlin (Ost), zum Untergang — wie gemeldet — verurteilt, gibt per Pressemitteilung, wörtlich in dieser Interpunktion, das Folgende bekannt: „Die Akademie der Künste zu Berlin, im Frühjahr 1950 in der Nachfolge der ehemaligen und 1933 gleichgeschalteten Preußischen Akademie der Künste gegründet, (die Gründungsmitglieder waren: Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Max Buttung, Heinrich Ehmsen, Anna Seghers, Arnold Zweig ... [hier kürzen wir etwas]) bestand und besteht aus einer Gemeinschaft der Mitglieder und einer Gemeinschaft der Mitarbeiter. Nur durch diese Kombination war es möglich, die Akademie zu einer „arbeitenden“ Einrichtung zu machen. Konzentriert auf Fragen der Produktion und Rezeption von Kunst im 20. Jahrhundert reicht das Arbeitsspektrum der Akademie von ihrem öffentlichen Wirken wie Veranstaltungen, Ausstellungen, Lesungen, Kolloquien usw. bis hin zur Bewahrung der künstlerischen Quellen dieses Jahrhunderts und ihrer kunstwissenschaftlichen Erforschung und Veröffentlichung.
Die Gemeinschaft der Mitglieder ist nicht auflösbar. Sie ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts und hat mehrfach erklärt, daß eine Selbstauflösung für sie nicht in Frage kommt. Seit Juli 1990 ist unbestritten, daß sich die Zahl der Mitarbeiter auf effiziente Größen zubewegen, d.h. reduzieren muß. Das Präsidium wird deshalb den Mitgliedern der Akademie auf der am 25.9.1991 stattfindenden Plenarsitzung empfehlen, in einer Übergangszeit die Arbeit der Akademie solange fortzuführen, bis Klarheit geschaffen worden ist, ob die von Heiner Müller angeregte Gründung einer eigenständigen Europäischen Künstlersozietät verwirklicht werden kann, ob in den Bundesländern Interesse an einer von den Ländern getragenen neuen Akademie besteht, welche Segmente der bisherigen Akademie- Aufgaben, z.B. die Meisterschülerausbildung, weitergeführt werden können, wie die Frage der Mitgliedschaft zu regeln, ob und in welcher Weise das weitere Erscheinen der Zeitschrift 'Sinn und Form‘ gewährtleistet, ob in den nächsten 2 bis 3 Jahren, spätestens 1996, dem Jahr, in dem die beiden Kunstakademien in Berlin auf eine 300jährige Geschichte zurückblicken werden, eine Vereinigung möglich ist. Das Präsidium geht dabei von der Zusicherung des Bundesinnenministeriums aus, daß die Zuschüsse des Bundes zur Mitfinanzierung der Akademie bis zu 75 Prozent auch für 1992 gewährt werden, daß, wie der Kultursenator in seiner Presseerklärung mitgeteilt hat, 144 Mitarbeiter „übernommen“ werden und daß für die Mitarbeiter, die in die Arbeitslosigkeit entlassen werden müssen, ein Sozialplan ausgearbeitet wird.
gezeichnet: Heiner Müller, Werner Stötzer, Heiner Carow, Stephan Hermlin, Ruth Zechlin, Nuria Quevedo, Gerhard Scheumann, Waltraut Lewin, Paul-Heinz Dittrich, Ulrich Dietzel.“
Ob sich denn unter den verbleibenden 144 MitarbeiterInnen eine/r finden mag, die von unser aller Sprache einen besseren Gebrauch machen wird? Es steht schlecht um die deutschen Akademien, Gemeinschaft der Gläubigen, das ist nunmehr noch heller leuchtend klar als ehedem.
Jelinek bebildert Das freie Tanztheater „mind the gap“ zeigt „Reiche“
Der Zuschauerraum im Remscheider Stadttheater ist besetzt: Über den Stuhlreihen liegt eine weiße Stoffbahn. Sie reicht bis auf die offene Bühne hinauf, auf der neben Ziegelsteinhaufen und Kissen auch Kochtöpfe zu sehen sind. Sechs Frauen räkeln sich wohlig in den zugedeckten Theatersesseln und beobachten amüsiert und interessiert, wie sich das Publikum zaghaft durch die schmalen seitlichen Türschlitze in die Randbereiche des Raumes bewegt. Niemand wagt, seinen Platz einzunehmen, alles steht und staunt und raunt. Die Situation hat etwas von Peep-Show-Atmosphäre. Sie will auch nicht vergehen, als die sechs Frauen nacheinander über die Stuhlreihen auf die Bühne klettern und dabei das große weiße Tuch hinter sich zusammenraffen.
Es sind allein die Frauen, die im Mittelpunkt der neuesten Produktion des freien Tanztheaters „mind the gap“ stehen. Das Ensemble mit Sitz in der Bausch-Stadt Wuppertal hat keinen festen Spielort und sucht sich für seine Stücke jeweils neue Kooperationsbühnen. Reiche, den Titel ihrer nach dem Jelinek-Roman Die Liebhaberinnen entstandenen neuesten Tanzproduktion, wollen Choreographin Kristine Sommerlande und Regisseurin Kim vom Kothen denn auch bezogen wissen auf die „kleinen Reiche, die sich Frauen schaffen, in denen sie agieren können, die es zu schützen gilt, die verteidigt werden, immer wieder aufgebaut werden“.
Wie das geschieht, zeigt das junge spiel- und tanzfreudige Ensemble auf der Bühne: Dort wird aus den herumliegenden Ziegelsteinen immer wieder an einer der sechs am Bühnenrand angedeuteten Wohnzellen weitergebaut. Je ein grüner Stuhl, ein Tisch, ein Bettgestell, die zusammengesammelten Kissen und der eigene Topf werden eifersüchtig verteidigt. Augen tragen stumme Duelle aus, der Kochtopf ersetzt, zu Prokofjews Ballettmusik Romeo und Julia rhythmisch gewiegt, das Kind. Schöne kleine, heile Welt.
Ausbruchsversuche aus dieser alltäglichen Welt des Banalen folgen fast zwangsläufig, und sie ersticken fast immer schon im Ansatz. Wieder und wieder kommt eine der sechs Tänzerinnen an die Rampe, um aus Kontakt- oder Heiratsinseraten zu zitieren: „Zartes Weibchen sucht Ihn. Sie ist häuslich und kann gut mit Geld umgehen.“ Eine andere Protagonistin versucht wiederholt, mit einem aufgehängten Kleidersack zu kopulieren. Sie streichelt den toten Gegenstand zärtlich mit Händen und Augen, schmiegt sich an ihn, nimmt ihn zwischen die Beine und bringt ihn endlich in ihre Wohnnische. Von einem hohen Gerüstturm aus liest unterdessen eine dritte Frau hingebungsvoll aus Romanheftchen vor. Aber auch diese Flucht in die Scheinwelt von Glück und Romantik währt nur kurz; bald schon beteiligt auch sie sich wieder an der gemeinsmen Aufbauarbeit am eigenen kleinen Reich, schleppt die Ziegelsteine und wiegt den Kochtopf.
Solidarität wird in nur wenigen gemeinsamen Tanzsequenzen spürbar. Mit genau abgezirkelter Gestik und harten rhythmischen Schritten zur Prokofjew-Musik bildet das Ensemble dann kurz eine Einheit, um sofort wieder in sechs Individuen zu zerfallen, die eher gegen- als miteinander agieren.
Mit leuchtenden Augen kommt im Laufe des Stücks jede der sechs Frauen einmal an den Bühnenrand, um auf Brust, Taille und Hüfte zu zeigen und dabei mit lauter und klarer Stimme stolz die eigenen Körpermaße zu verkünden. Jede von ihnen trägt zu einem hellen Oberteil den gleichen knielangen braunen Rock, den zwei über der Brust gekreuzte Lederriemen halten. Daß sich hier der Vergleich zur BDM-Uniform der Nazis aufdrängt, mag Zufall sein. Am Schluß aber stellt sich wieder die Rollenfrage: Wieder stehen die Frauen vorn; inzwischen hat jede von ihnen einen Rollständer mit Kleidersack im Arm. Das weiße Stofftuch, das nach wie vor auf der Erde liegt, dient für einige der Frauen jetzt als Hochzeitsschleier. Während auf der Bühne langsam das Licht über dem rollengemäßen Finalbild erlischt, liest eine Stimme aus dem Off wieder aus dem Groschenroman vor: „...und langsam sank sie in seine starken Arme.“
Stefan Koldehoff
„mind the gap“ sucht nach Theatern, bei denen es Reiche aufführen kann. Informationen unter Telefon 0202/4938471.
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