Droht Pangermanismus?

■ In der CSFR wird der Vertrag zum Wahlkampfthema

Prag (taz) — Beschränkte sich die tschechoslowakische Diskussion über den deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag bisher nahezu ausschließlich auf die Entschädigungsforderungen der Sudetendeutschen, so hat sie seit diesem Dienstag einen neuen — und voraussichtlich folgenschweren — Aspekt. In einem Brief an CSFR-Außenminister Dienstbier wandte sich der slowakische Ministerpräsident Jan Carnogursky gemeinsam mit dem Präsidenten des slowakischen Parlaments, Frantisek Miklosko, gegen eine Vertragsklausel, die die ununterbrochene Existenz der 1918 gegründeten Tschechoslowakei festschreibt. Durch diese Formulierung, so die beiden Slowaken, werde die Existenz des 1939 gegründeten selbständigen slowakischen Staates geleugnet. Gerade weil das Regime der von Hitlers Gnaden abhängigen Republik zu verurteilen sei, könne sie nicht einfach ignoriert werden.

Durch diesen Brief wird der Nachbarschaftsvertrag völlig unerwartet Teil der Diskussion über die Zukunft der Tschechoslowakischen Föderation. Carnogusky, der eine mit Böhmen und Mähren lediglich durch einen losen Vertrag verbundene, aber ansonsten selbständige Slowakei anstrebt, fordert, daß die Bundesversammlung in Prag mit dem Parlament in Bratislava über eine Streichung dieser Formulierung verhandelt.

Da Dienstbier es inzwischen abgelehnt hat, die Existenz eines unabhängigen slowakischen Staates zwischen 1939 und 45 anzuerkennen, dürfte die Ratifizierung des Nachbarschaftsvertrages durch die Bundesversammlung somit mehr als fraglich geworden sein. Angesichts einer notwendigen Zustimmung ihrer beiden Kammern verfügen die slowakischen Abgeordneten dort quasi über eine Sperrminorität.

Doch auch vor den slowakischen Querschüssen schien Dienstbier sich der Zustimmung einer Mehrheit der Abgeordneten nicht sicher zu sein. Gegenüber seinen Verhandlungspartnern ließ er verlauten, daß er sich noch vor einem Ende der Verhandlungen mit anderen Parteien verständigen müsse. Hintergrund: Mehr als ein halbes Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen hat in Prag der Wahlkampf bereits begonnen. Den Gegnern der Koalitionsregierung, allen voran die Kommunisten, dienen die deutschen Forderungen als eines der heißesten Themen. Denn nicht nur die direkt betroffene Bevölkerung in den ehemals von Deutschen bewohnten Gebieten, auch die Mehrheit der Tschechen und Slowaken lehnen eine Entschädigung der Vertriebenen ab.

Zu erklärten „Feinden“ der tschechoslowakischen Presse wurde unterdessen die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die CSU. Den „Berufsvertriebenen“ und „pangermanischen Nationalisten“ wird vorgeworfen, nichts gelernt zu haben. Sollte ihre Kritik an dem jetzt ausgehandelten Vertrag dazu führen, daß die deutschen Entschädigungsforderungen doch noch aufgenommen werden, müßte die Prager Regierung die Verhandlungen abbrechen. Die Zeiten, in denen die Tschechoslowakei zu Verträgen gezwungen werden könne, seien vorbei. Sabine Herre