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GASTKOMMENTAREStahlkugeln und Freiheit — die Einigung als Prozeß

■ Die deutsche Einheit ist kein Fixpunkt — über die Freiheit für alle Deutschen hinaus muß sie zu einer brüderlichen und schwesterlichen Gesellschaft führen

Deutschland 1991: In Hoyerswerda fliegen Steine und Stahlkugeln, Rechtsradikale blasen unter Beifall des umstehenden Publikums zur Hatz auf Ausländer und Asylbewerber. In Ostdeutschland wächst die Ungeduld, weil die Talfahrt der Wirtschaft trotz Hoffnungszeichen nur langsam aus der Talsohle herauskommt; parallel wächst im Westen der Unmut der Bürger, die sich an den Grenzen ihrer finanziellen Belastbarkeit angekommen sehen. Die Fangarme der Krake Stasi reichen bis in die Parlamente und untergraben die Glaubwürdigkeit demokratisch gewählter Volksvertretungen und der Justiz.

Die Bundesrepublik ein Jahr nach der Vereinigung — ein gespaltenes Land? Fast scheint es so, als sei der Riß, der Graben zwischen Ost und West, trennender, als es die Mauer je gewesen sein könnte. Aber manch einer scheint auch schon vergessen zu haben, wie es zu den Zeiten war, als Mauer, Schießbefehl, Todesstreifen, Politbüro, Zentralkomitee und die Zuchthäuser für politische Gefangene noch Wirklichkeit waren.

Richard von Weizsäcker hat vor etwas mehr als einem Jahr darauf hingewiesen, daß das deutsche Volk zusammenwachsen müsse und nicht zusammenwuchern dürfe. Daß es nicht leicht werden würde, zwei Gesellschaften zwar gleicher Nationalität, aber ganz unterschiedlicher Geschichte in den letzten 45 Jahren zusammenzuführen und auf Dauer zu einen, das mußte jeder wissen: Da ist auf der einen Seite eine Gesellschaft, eine der reichsten der Erde, in der die Menschen sich auf ein vorbildliches System der sozialen Sicherung stützen können; und auf der anderen Seite ist es eine Gesellschaft, in der zwar keine akute wirtschaftliche Not herrschte, deren wirtschaftliches und soziales System im Prinzip aber bankrott war. Da ist auf der einen Seite die alte Bundesrepublik, in der seit 1949 Freiheit und Demokratie herrschten, wo jeder seine Meinung frei sagen kann, wo es eine freie Presse gibt, Tarifautonomie und vieles andere mehr; und da ist auf der anderen Seite ein Land, das von der braunen nahtlos in die rote Diktatur übergegangen ist, wo es keine freie Meinungsäußerung und keine demokratischen Parteien, dafür aber zum Beispiel die Stasi und Zwangsadoptionen gab. Für diese zwei grundverschiedenen Gesellschaften und politischen Systeme gab und gibt es keinen Weg, sich in der Mitte zu treffen; zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf der einen Seite und Diktatur und sozialistischer Mißwirtschaft auf der anderen Seite gibt es keinen Kompromiß.

Für die Menschen in Ostdeutschland ist deshalb fast nichts so geblieben, wie es früher einmal war: Sie mußten oder müssen ihre Lebensplanung und ihre Gewohnheiten fast komplett umstellen und werden mit einer fast gänzlich neuen Wirklichkeit konfrontiert, während sich für die Menschen im Westen infolge der Vereinigung in ihrem persönlichen Leben, an ihrem wirtschaftlichen Wohlstand und ihrer sozialen Sicherheit im Prinzip nichts oder nicht viel geändert hat.

Die Revolutionäre von Leipzig und Dresden sind nicht auf die Straße gegangen, um den deutschen Nationalstaat wiederherzustellen, sondern weil sie endlich wie andere frei sein und sozial gerecht leben wollten. Die deutsche Einheit war für sie nicht Selbstzweck, sondern Garantie und Gewährleistung dafür, daß für sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit von Dauer sind. Die Freiheit haben sie jetzt, aber soziale Gerechtigkeit und Gleichheit sind noch nicht verwirklicht. Deshalb konnte man von Anfang an auch nicht davon sprechen, daß mit dem Vollzug der staatlichen Einheit Deutschland am 3.Oktober 1990 die Einheit unseres Landes bereits vollendet worden wäre. Wir sollten sie daher nicht als Fixpunkt der deutschen Geschichte begreifen, sondern als Prozeß, der über die Freiheit für alle Deutschen hinaus zu einer brüderlichen und schwesterlichen Gesellschaft führen muß. Heiner Geißler

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