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ZWISCHEN DEN RILLEN

■ So schön lustig, erotisch, brutal und traurig

Sie berufen sich auf so unterschiedliche Musiker und Komponisten wie Igor Strawinsky, Johannes Brahms, Maurice Ravel, Henry Mancini, Miles Davis und Dave Brubeck. Sie erweisen musikalischen Traditionen und Stilistiken ihre Referenz, indem sie umgestalten, neuinterpretieren und vermischen, ohne deren jeweilige Essenz preiszugeben. Sie bringen interpretierende Klassiker und improvisierende Jazzer unter einen Hut und gemeinsam zum Klingen. Ihr Name ist Programm: Vielharmonie Orchestra. Gegründet 1987 in Ost-Berlin, damaliger „Hauptstadt“ mauergeschützter deutscher Phantasielosigkeit, vielleicht als eine Art dialektischer Rache am roten Spießer, bestehend aus Jazz- und Orchestermusikern der verblichenen DDR.

Es gibt viele Big Bands in Deutschland, und einige in Berlin, die etwas zu sagen haben, versuchen Innovatives zu leisten, das CIO, Experimenti Berlin, vielleicht auch Schlippenbachs Berlin Contemporary Jazz Orchestra, doch das eigenständigste Projekt dieser Art ist das Vielharmonie Orchestra. Unter der Leitung von Frank Raschke gelingt es den Vielharmonikern, eine sehr lustige und höchst intelligente Synthese aus traditionellen musikalischen Mustern, Klischees, Stilen und Sentimenten herzustellen. Bluelero zum Beispiel, das Opening ihrer neuen LP More like Brahms, ist dafür das beste Beispiel. Kombiniert werden das Dauercrescendo und der Rhythmus des Ravelschen Bolero mit dem All Blues-Thema von Miles Davis, vorgetragen von einem aus Jazzmusikern und Klassikern bestehenden Orchester.

Moderne Schnitt- und Sampletechnik macht es möglich, daß plötzlich unter dem All Blues Claudio Abbado mit seinen Londoner Philharmonikern auftaucht, so geschickt arrangiert und gemischt, daß der Eindruck entsteht, als hätten die Viel- tatsächlich mit den Philharmonikern musiziert, um Miles Davis mit Maurice Ravel bekannt zu machen. Im nächsten Stück dann wird Mancinis Pink-Panther-Motiv plötzlich himmelblau (wie es im Titel heißt), also auf vielharmonische Art um- und neuinterpretiert.

Die Tatsache, daß Jazzer mit Klassikern zusammenarbeiten, hat beim Vielharmonie Orchestra nicht den Effekt, daß die einen sich den Prinzipien der anderen unterwerfen. Ergänzung ist das Prinzip. Die acht Titel von More like Brahms, seien es Eigenkompositionen, Standards oder Konglomerate wie der Bluelero, sind wie aus einem Guß, Gesamtkunstwerke also. Endlich gibt es in Deutschland ein Pendant zum Vienna Art Orchestra.

Was die Vielharmoniker aus dem Osten in genügendem Maße besitzen, geht einem sehr begabten jungen Mann aus dem Westen, wie man aus gut unterrichteten Schlagzeugerkreisen vernehmen kann, etwas ab. Der Humor. Auch auf dem Inlet-Foto seiner neuesten Veröffentlichung mit dem „Thorsten de Winkel Acoustic Quartet“ will das Lachen nicht so recht gelingen. Obwohl, Grund genug hätte er eigentlich. Beste Verbindungen zu finanzkräftigen Sponsoren werden ihm nachgesagt. Auf seinen Platten tauchen neben den deutschen Baßheroen Helmut Hattler und Kai Eckhardt-Karpeh auch Namen wie Michael Brecker, Billy Cobham, Alphons Mouzon, Joachim Kühn und Nana Vasconcelos auf und jüngst auch Bob Moses. Er produziert mal hier, mal in NYC, mal in Boston und zählt zu den erfolgreichsten jungen deutschen Gitarristen.

Ist de Winkel bisher hauptsächlich als virtuoser und sehr versierter Fusiongitarrist in Erscheinung getreten, ist sein neuestes Werk das Ergebnis eines puren Jazzquartetts mit dem eher unauffällig und deshalb sehr angenehm auf den Punkt spielenden Contrabassisten Larry Grenadier, dem hervorragenden, ganz in der wunderschön lyrischen nordischen Saxtradition stehenden Ole Mathisen am Saxophon und dem so auf „GoGo-Music“, also Dance- und Funk-Musik abfahrenden und höllisch swingenden Bob Moses an den Drums.

Eine schöne, oft sehr lyrische Platte, die besonders geprägt ist durch den wunderbar warmen Ton Ole Mathisens und das kraftvolle und variantenreiche Spiel Bob Moses'. De Winkels Kompositionen werden den Temperamenten seiner Musiker gerecht. Oder vielleicht ist es umgekehrt. Positiv auch, daß de Winkel sich, was Soli angeht, nicht in den Vordergrund zu spielen versucht. Es ist eine wirkliche Band.

Was der eine für das Wichtigste im Leben hält, hat der andere längst gehabt, ohne daß es ihm, als Bestätigung seines Egos, besonders wichtig war. Erfolg.

Gonzaguinha, Sohn des auch außerhalb Brasiliens legendären Luis Gonzaga und einer der besten und engagiertesten Songschreiber seines Landes, ist sehr erfolgreich gewesen, allerdings nicht in Europa, was wirklich nichts über Qualität aussagt. In Brasilien war er bekannt für sein soziales Engagement, ein „Kämpfer sozialer Anliegen“, wie ihn Lula, letzter Präsidentschaftskandidat der PT (Arbeiterpartei), nannte. Am 29.April dieses Jahres kam Gonzaguinha, 46jährig, bei einem Autounfall ums Leben. Bei seiner Beisetzung versammelten sich über 10.000 Menschen, um von ihrem Sänger, ihrem Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit Abschied zu nehmen. Sein Tod fiel zusammen mit den Vorbereitungen zur erstmaligen Veröffentlichung eines Gonzaguinha-Albums in Deutschland durch seinen Freund und deutschen Verleger Claus Schreiner.

Bürgerlich hieß er Luizinho de Gonzaga, aber die Leute nannten ihn zärtlich „Gonzaguinha“, und so heißt auch die Platte. Aufgenommen im November '89, ist sie eine Hommage an den großen Vater, eine Kombination aus neuen Kompositionen Gonzaguinhas und vom Sohn neuinterpretierten Klassikern des Vaters. Es ist eine der besten brasilianischen Platten der letzten Jahre, modern, ohne die „raizes“ — die eigenen Wurzeln— zu verraten.

Dieses nunmehr letzte Album von Gonzaguinha ist vom Sound her hervorragend produziert und wirkt von den Gefühlen her sehr überzeugend, sehr ehrlich.

Gonzaguinhas Texte sind so schön, lustig, erotisch, brutal und traurig wie Brasilien selbst. Gonzaguinha ist ein wirklicher Poet aus einem wirklich noch poetischen Land. Und diese Texte werden auf der deutschen Veröffentlichung auch denen zugänglich, die kein Portugiesisch verstehen. Außerdem ist neben dem portugiesischen Originaltext auch eine recht gute deutsche Übersetzung im CD-Booklet mit abgedruckt.

Vielharmonie Orchestra: „More like Brahms“, Blackbird Records

Torsten de Winkel: „Acoustic Quartet“, Hot Wire Records

Luizinho de Gonzaga: „Gonzaguinha“, Tropical Music

SOSCHÖN,LUSTIG,EROTISCH,BRUTALUNDTRAURIG

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