: Straßenkinder in Sankt Petersburg
■ In der Sowjetunion vagabundieren Zehntausende Kinder kreuz und quer durch die Republiken: aus Heimen oder kaputten Familien weggelaufen, auf der Flucht vor der Miliz. In Sankt Petersburg leben sie in Bahnhöfen und Abbruchhäusern.
Obwohl die herbstliche Sonne über der nördlichen Metropole den Moskauer Bahnhof in ein gleißendes Winterlicht taucht, ist es im Dienstraum der Bahnpolizei im Souterrain nur schummrig. Durch die Fensterscheiben projiziert das Tageslicht kopflose, huschende Schattenrisse der Reisenden auf die Falten des dünnen Stoffes. Die verblichenen Vorhänge vor dem vergitterten ebenerdigen Fenster sind zugezogen. Der Acht- Quadratmeter-Raum ist verqualmt, die Zeit steht still, da dringt von der hölzernen Eingangstür her der Aufprall eines menschlichen Körpers, gefolgt von Kinderschluchzen.
Ein Milizionär mit zerzausten Haaren und offener Uniformjacke zerrt mit festem Griff zwei Jungen an den Armen in das Verhörzimmer. „Er hat mich geschlagen, er hat mich geschlagen!“ weint das Kind im zerrissenen Anorak und den löchrigen Turnschuhen. „Haha“, dröhnt das Lachen des stämmigen Milizionärs in Jeansjacke zurück, „ihr macht hier ja eine richtige Show.“ Zwischen den vier Männern und einer Milizbeamtin wirken die schmächtigen Jungen mit ihren verweinten Augen wie gehetzte, in die Enge getriebene Tiere. Die Männer durchsuchen professionell die schlotternden Kinder; aus ihren Hosentaschen befördern sie zwei leere Streichholzschachteln, eine leere „tic-tac“-Plastikbox für Pfefferminz-Bonbons, einen Bleistift, ein 20-Kopeken-Stück und 29 Rubel in zerknitterten Scheinen auf den Schreibtischrand. Als die Gefangenen ihre Namen nicht nennen wollen, werden sie getrennt ins Kreuzverhör genommen. „Wenn du mir nicht sagst, wie du heißt, dann bin ich gezwungen, dich 30 Tage in eine geschlossene Anstalt zu stecken“, lächelt die Milizbeamtin süßlich unter ihrer blonden Dauerwelle zum Jungen im Anorak. Dreißig Minuten halten die Jungen, die am Zug erwischt wurden, als sie den Schaffner für zwei Plätze im Schnellzug nach Moskau bestechen wollten, dem Verhör stand. Dann packen sie aus. Die Zwölfjährigen Wladmir und Olek sind im 300 Kilometer entfernten Petrosawodsk ihren Eltern davongelaufen.
Die 17 Beamten der Kinderabteilung der Bahnhofsmiliz fangen im Monat durchschnittlich 100 Ausreißer ein, die aus der ganzen Sowjetunion, selbst aus Wladiwostok, kommen. Die Zahl der in Sankt Petersburg herumstreunenden Kinder wird von offiziellen Stellen auf 10.000 geschätzt.
Wenn sie mehr Personal hätten, um den Moskauer Bahnhof und das 200 Kilometer lange Streckennetz von Nahverkehrszügen besser zu kontrollieren, dann könnten sie auch 20 Kinder am Tag fangen, prahlen die Greifer aus dem Kellergeschoß.
Nachdem die Beamten ein handschriftliches Protokoll angefertigt haben, werden die Jungen zu einem Lada abgeführt und in die einzige Petersburger „Auffang- und Verteilungsanstalt für Minderjährige“ abtransportiert.
„Das sind die Erfolge, die einen in der Arbeit beflügeln“, reibt sich der Chef der Kinderabteilung der Bahnhofsmiliz die Hände. „Die Mütter der Jungen haben sich bestimmt schon die Augen ausgeweint. Durch uns bekommen sie ihre Kinder zurück.“
„Die Miliz rollt wie mit Panzern über die Seelen der Kinder“, kommentiert der 30jährige Sozialarbeiter Andrej die Geschichte der Verhaftung der Jungen. Andrej, den die Kinder Chigook, große Schlange, nach einem Indianerhäuptling in einem DEFA-Film rufen, ist eine sagenumwobene Gestalt in der Szene der Ausreißer. Andrej und fünf obdachlose Erwachsene, alle selbst in staatlichen Heimen aufgewachsen, haben Verständnis für die kleinen Vagabunden und helfen den Flüchtlingen, ohne sie einzusperren. Durch ein eigenes Informationssystem, bestehend aus Bettlern und Drogendealern auf den Bahnhöfen, suchen sie die Ausreißer und nehmen sie in ihr besetztes Abbruchhaus auf. Vor 18 Monaten haben sie ihre Arbeit im Untergrund begonnen und mußten dreimal von einem leerstehenden Haus in die nächste Ruine umziehgen. Jetzt gibt es drei betreute Häuser für Ausreißer, und sie haben den Verein „Charter of Leningrad Peace and Charity House“ gegründet. Zwar bekommen sie bisher kein Geld von der Stadt, aber inzwischen sind sie „halblegal“, das heißt, ihre „Häuser des Friedens“, unter anderem in einem Abbruchhaus in der Nähe der KGB-Zentrale, werden geduldet, die Miliz fängt „ihre“ Kinder nicht mehr von der Straße weg.
„Als die Männer des KGB und der Miliz die Kinder hier gesehen haben, war das für die eine ganz neue Erfahrung. Bisher hatten sie diese Kinder nur verlaust auf Bahnhöfen, unter Drogen in Kellern und hinter Gittern gesehen“, erklärt Andrej. Das Leben der Ausreißer werde vom Gesetz der Straße bestimmt, sie würden mißbraucht, verkauft und mißhandelt. In den Ruinen der Metropole säßen die Kinder, schnüffelten den Kleber „Moment“ und rauchten Opiate. Liebe, lernten sie, sei die sexuelle Verfügbarkeit, sei Prostitution. Auf der Straße gäbe es nichts umsonst, alles müsse bezahlt werden.
Trotzdem ziehen die Ausreißer das Leben der Straße den Schlägen alkoholisierter Eltern oder dem Dahinvegetieren in Waisenhäusern oder Internaten vor. In den Einrichtungen des Staates arbeiten schlecht bezahlte und ungenügend ausgebildete Erzieher. Zwei Kinder erhängten beziehungsweise verbrannten sich in der Sonderschule Nr.1, weil sie den Terror des Systems psychisch nicht mehr ertragen konnten. Skandale über den Schlagstockeinsatz der zwölften Abteilung der Miliz im Tagesraum eines Waisenheims sowie die Unterschlagung von Lebensmitteln und Urlaubsreisen der Kinder durch den Direktor und sein Personal im Waisenheim Nr.31 erschütterten die Öffentlichkeit.
Das Schlimmste, was den Kindern in staatlicher Obhut passieren kann, ist, als schwachsinnig abgestempelt zu werden. Der Abgeordnete des Leningrader Sowjets, Alexander Rodin, untersuchte mit norwegischen und englischen Experten der Organisation „Ärzte der Welt“ in staatlichen Heimen die angeblich Schwachsinnigen. Bisher konnten sie nur in sieben Heimen Stichproben machen und 50 Kinder untersuchen. 80 Prozent der abgestempelten Kinder waren völlig normal. Rodin schätzt, daß 60 bis 70 Prozent der 16.000 Heimkinder in Petersburg bereits nach Ablauf ihres ersten Lebensjahres zu einem Sklavendasein verdammt wurden. Wenn sie im Alter von einem Jahr nicht in der Lage waren, zehn russische Wörter zu sprechen, wurden sie als schwachsinnig abgestempelt. Die Ärzte wurden oft genötigt, Kinder als schwachsinnig einzustufen, da das Personal dann einen Zuschlag von bis zu 40 Prozent zum Gehalt bekam. Den Kindern wurden dadurch alle Möglichkeiten, ein normales Leben zu führen, genommen. Sie durften nur vier Jahre zur Schule gehen, sie bekamen später nur die schmutzigste und gefährlichste Arbeit. „So hat sich das System rechtlose, biologische Roboter gezüchtet, die auf Befehl jede Arbeit verrichten müssen“, schimpft der vielbeschäftigte Abgeordnete, der erst nach fünf Tagen und dann nur zehn Minten Zeit für ein Interview findet. „Diese Kinder haben als Erwachsene nur die Alternative, als rechtlose Ochsen zu arbeiten oder eine kriminelle Karriere zu beginnen. Die Hälfte von ihnen findet sich später im Gefängnis wieder.“
Schräg gegenüber dem „Haus des Friedens“ für Ausreißer, an der Kreuzung Litejnij Prospekt/Belinskowo Straße, ist der Sitz des Kriminologischen Instituts.
Noch bis vor zwei Jahren hätten sie die Ergebnisse ihrer Untersuchung zur Jugendkriminalität in der Sowjetunion nur schwer zur Diskussion stellen können, erklärt der Leiter, Professor Alexander Bastrykin. Immer hätten sie sich, auch angesichts des Widerstandes der Stalinisten im eigenen Institut, fragen müssen, wie weit sie mit ihren Aussagen über die Ursachen gehen durften. Noch vor wenigen Jahren hätte es keine Ursachen für die Jugendkriminalität im Kommunismus geben dürfen, sondern die Erscheinungen wurden als Ergebnis des zersetzenden Einflusses der westlichen Jugend, als „Muttermale des Kapitalismus“ abgetan.
Inzwischen — so Professor Bastrykin — werden landesweit 20 Prozent aller Delikte durch Kinder und Jugendliche verübt, der größte Teil davon sind Diebstähle. Man kann aber die Eigentumsdelikte Heranwachsender auch als Protestform begreifen. Wenn jugendliche Banden aus Kasachstan Moskauern auf der Straße die Jeans rauben, weil sie sich keine kaufen können, läßt das auch ein berechtigtes Bedürfnis nach gerechter Verteilung erkennen.
Der wichtigste Grund für die steigende Jugendkriminalität ist die große moralische Krise des Landes. Jahrzehntelang hat man mit einer Doppelmoral gelebt, was gesagt wurde, stimmte nicht mit der Realität, dem Handeln und Tun überein. Zum Beispiel sollten seine Jurastudenten in den Semesterferien Güterwaggons bewachen. Zwei Wochen hatten sie ihre Pflicht getan, um dann als „weiße Raben“ beschimpft zu werden. Offiziell sollten sie ihre Pflicht tun, gesellschaftliches Eigentum bewahren, praktisch galt aber der Grundsatz: Was ich zu bewachen habe, das besitze ich.
Die Perestroika habe die großen Lügen der doppelten Moral ans Licht gebracht. Das sei schon für die Erwachsenen schwer zu verarbeiten, für Kinder und Jugendliche sei es doppelt schwer.
Der Professor, kettenrauchend, holt kaum Luft beim Sprechen. Das Wichtigste sei jetzt eine Politik der moralischen Wiedergeburt der alten russischen Tradition. Jedes Volk in der Sowjetunion müsse sich seiner Volkstradition, seiner Wurzeln besinnen, die Religionen spielten dabei eine wichtige Rolle. „Als Kommunisten hatten wir das Monopol auf die Wahrheit beansprucht, aber wer hat uns das Recht gegeben? Wir müssen aufhören, mit dem Volk zu experimentieren! Hoffnung macht mir die Tatsache, daß während des Putsches im Sommer die Hälfte der Verteidiger auf den Barrikaden vor dem ,Weißen Haus‘ Jugendliche waren.“
„Jugendkriminalität, das ist ein Begriff, den wir nicht mögen“, schüttelt Häuptling Chigook in der Küche seines Kinderasyls den Kopf. „Nicht die Kinder sind kriminell, sondern die Verhältnisse!“
Seltsame, wilde Gestalten sind die Kinder, die sich um Chigook in der Vierzimmerwohnung im zweiten Stock des grauen Abbruchhauses der Jahrhundertwende tummeln.
Meist kommen sie über den Hof, über die steile Steintreppe des Hintereingangs, vorbei an einem schmutzigen Tuch, das als Vorhang im Türrahmen hängt, direkt in die Küche. Im Treppenhaus stinkt es nach verfaultem Fisch und Ammoniak, in der Küche riecht es nach dem feuchten, modernden Holzfußboden und der auf dem Gasherd in einem 20-Liter-Topf köchelnden Kohlsuppe. Drei Stützbalken verhindern das Herabstürzen der Decke, auf einem Tisch stehen Pappkartons mit Broten, in einer Ecke schläft die achtwöchige Katze Purtscha auf einem alten Röhrenradio.
Die Zimmer sind bis auf wenige Betten und Schränke unmöbliert. An den Wänden stapeln sich gammelige Kindermatratzen. Als Tische dienen alte Schrankwände, gesessen wird auf Kisten und Kissen. Die alten verblichenen Tapeten sind beklebt, bemalt und beschriftet: „Wir sind klüger als ihr denkt.“
Ein Kind hat in deutscher Sprache Heine zitiert: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurich bin.“
Der kleine elfjährige Anatoli, der in der Küche für alle Kinder kocht, ist begeisterter Museumsgänger. Seine Lieblingsbilder hängen in der Ere
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mitage. „Seine Geschichte ist ein Drama“, erzählt Chigook. „Sein Vater war ein gut verdienender Ingenieur, der seine Frau und seinen Sohn liebte. Mit Toli ging er regelmäßig in die Museen, dann starb er durch einen Stromschlag im Betrieb und hinterließ Frau und Sohn mittellos.“ Die Mutter brach seelisch zusammen und wurde Alkoholikerin. Als Toli an seinem zehnten Geburtstag, in Rußland ein ganz besonderer Festtag, nach Haus kam und die Wohnung leer und schmutzig vorfand, packte er seine Sachen. Einige Zeit hat er dann in einem großen Keller, in dem sich hundert Kinder spontan getroffen hatten, gelebt. Die Miliz hat alle auseinandergetrieben. „Das ist typisch für die Miliz in Leningrad. Sie lassen die Kinder in den Kellern gewähren, bis sie ein öffentliches Ärgernis werden oder ein Pressebericht erscheint. In Moskau arbeitet die Miliz anders. Dort organisiert die Miliz sogar Unterschlüpfe für die Ausreißer, um größere Gruppen einfangen zu können.“
Chigook wird von einer lärmenden Gruppe neuer Kinder unterbrochen, die vom Entlausen kommen. Der Anführer Igor, ein schmächtiges 120-Zentimeter-Kerlchen, stellt sich breitbeinig in den Raum, greift flink zwei „Amerikanski-Zigaretten“ von der Tischplatte und krächzt mit heiserer Stimme, daß seine neue Hose viel zu groß sei, er wolle sofort ein anderes Modell. Lässig wie ein Zuhälter, der sich vor seinem Mädchen aufbaut, steckt er seine linke Hand in die Hosentasche, um sein Goldkettchen am Handgelenk unübersehbar baumeln zu lassen.
Das Leben auf der Straße macht die Kinder zu kleinen Ganoven, kommentiert Chigook amüsiert den Auftritt. Sie lernen schnell das äußerliche Verhalten von Zuhältern, Drogendealern und Gangstern zu imitieren. Instinktiv nehmen die Kinder auch tierische Verhaltensweisen an. In Momenten der Gefahr stellen sich viele tot, andere gehen aggressiv zum Angriff über, weil sie die Anspannung der Bedrohung nicht aushalten. Nach einigen Tagen im „Haus des Friedens“ verändern sie sich, sie werden wieder kindlicher.
In Chigooks Zimmer hängen Bilder von Madonnen, Georg dem Drachentöter und John Lennon an der Wand. Von den Kindern, denen er Geborgenheit und Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln will, erwartet er, daß sie vor dem Essen beten. Als Sozialarbeiter ist er Profi. Bevor der nach Leningrad kam, arbeitete er zwei Jahre als Straßensozialarbeiter in Moskau. „Jetzt haben wir einen Wettlauf mit den konservativen Kräften. Das einzige, was unser Projekt retten kann, ist eine demokratische Entwicklung in der Sowjetunion“, erklärt der ordentlich gescheitelte Häuptling mit den dunklen Augen. Noch vor einiger Zeit wurde Chigook vor eine berüchtigte Jugendrichterin zitiert. Sie ließ durchblicken, daß es belastendes Material beim KGB gegen ihn gibt, so daß er besser seine Arbeit im „Haus des Friedens“ beenden soll, um die Heimleitung in einer großen Anstalt für Ausreißer zu übernehmen. „Sie wissen, daß die Ausreißer von Wladiwostok bis Murmansk mich kennen. Sie wollten mich als Leithammel mißbrauchen, um die Kinder in eine geschlossene Anstalt zu sperren.“
Nach dem gescheiterten Putsch haben die konservativen Kräfte ihm gegenüber ihre Vorgehen geändert. Jetzt wollen sie sich mit der Arbeit der engagierten Sozialarbeiter schmücken, die Unterstützung für das „Haus des Friedens“ verläuft in einem atemberaubenden Tempo. „Jetzt bezahlt die Stadt die Renovierung von zwei Wohnungen hier und besichtigt mit ausländischen Delegationen unser Haus. Könnt ihr euch vorstellen, wie schön das für uns ist; nach 18 Monaten Untergrund und Entbehrungen bekommen wir zwei Wohnungen renoviert“, strahlt der Indianerhäuptling. In einer Wohnung sollen Holzwerkstätten und Nähstuben eingerichtet werden. Die Straßenkinder sollen ein Handwerk lernen, die Produkte sollen verkauft werden und die Finanzierung des Projekts soll dadurch gesichert werden. Es wäre ein Verbrechen, die Kinder nur von der Straße zu holen, ohne ihnen eine Perspektive zu bieten. Viele Kinder wären drei bis vier Jahre als Ausreißer unterwegs, es sei für ihre Zukunft wichtig, daß sie einen Beruf lernten, beschreibt Chigook die Pläne.
Im leise geöffneten Türspalt erscheint der elfjährige Dima aus Petershof. Wie alle Kinder in der Wohnung ist er durch die schlechte Ernährung für sein Alter viel zu klein. Ein übergewichtiges, rosiges Kind wirkte in dieser Wohnung wie ein Fremdkörper. Dima klettert auf den Schoß von Chigook. Da er Heimweh verspürte, besuchte er seine Mutter. Mit gesenktem, kurz geschorenem Kopf berichtet das Kind: „Mutter hatte Besuch von einem Onkel. Sie hat mich angeschrien: ,Was willst du hier, verschwinde, das ist nicht mehr dein Zuhause!‘ Jetzt bin ich zurück.“
Der traurige Bericht des Kleinen hat den grippekranken achtjährigen Aljoscha unter den Decken auf Chigooks Bett auftauchen lassen. Neugierig blinzelt er in die Runde. Wie bei Dima wurden auch seine Haare in der „Auffang- und Verteilungsanstalt für Minderjährige“ geschoren.
„Den Kindern die Köpfe in der Anstalt kahl zu scheren, ist eine Disziplinierung. Sie sind dann später für die Miliz leichter zu erkennen“, schimpft Chigook. Der sensible Aljoscha ist von der Wendung des Gesprächs betroffen, seine Gesichtsmuskeln zucken, als könne er nur mühsam das Weinen unterdrücken. Schon dreimal wurde er in diese Anstalt gesperrt. Zur Begrüßung werden die Kinder einen Tag in einer vergitterten Zelle isoliert, dann werden sie medizinisch untersucht und geschoren. Es folgt die „Anmeldung“ bei den älteren Kindern, die „Anmeldung“ besteht aus Schlägen. Die Kleinen, wie Aljoscha, müssen dann die Laufburschen für die Starken spielen. „Du bist eine Sechs“, wird ihnen ihre gekrümmte Haltung als zukünftige Diener erklärt.
Die Anstalt ist ein düsteres, zweistöckiges Gemäuer. Alle Fenster des 1926 errichteten Hauses sind vergittert, die zwei Meter hohe Mauer um den Komplex läßt einen Knast für Schwerverbrecher vermuten. Der Eingang besteht aus einer mit Blech beschlagenen Tür mit Sichtfenster. Ein uniformierter Milizionär in Gummigaloschen öffnet: „Sie sind die ersten Deutschen, die uns besuchen.“ Vorbei an einem Schäferhund, durch finstere Gänge mit einem Geruch von Kohlsuppe, führt uns der Beamte mit seinem rasselnden Schlüsselbund zum Büro des Direktors Wladimir Schibajew.
3.000 Kinder im Alter von drei bis 17 Jahren gehen jedes Jahr diesen Weg. Es sind dreijährige Waisen, elf- bis 14jährige Diebe und Ausreißer aus allen Republiken der Sowjetunion. Bis zu sechs Monate müssen sie in der Gefängnisatmosphäre, bewacht von Milizionären, auf ihren Transport zu den Eltern, in Waisenhäuser oder geschlossene Heime warten. — Der Direktor telefoniert hinter seinem Schreibtisch, über ihm ein gerahmtes Bild von Lenin mit dem KGB-Gründer Dscherschinski, dessen Denkmal in Moskau nach dem Putsch gestürzt wurde. In der Zimmerecke läuft ein Fernseher. Der Direktor klatscht eine abgegriffene DinA-5-Broschüre auf den Tisch. Es ist die Dienstvorschrift von 1981 für alle „Auffang- und Verteilungsanstalten für Minderjährige“. Nach den Vorschriften in diesem Heft müssen die Beamten arbeiten. „Ich würde sofort die Gitter aus den Fenstern reißen lassen“, sagt der Direktor im schwarzweißen, löchrigen Rollkragenpullover. Das Problem ist seine vorgesetzte Milizstelle. „Die Kinder zählen jeden Tag ihres Aufenthalts in der Anstalt, aber wir haben kaum Beschäftigungsmöglichkeiten, um ihnen die Zeit zu verkürzen.“ Er würde die Kinder gerne zu Ernteeinsätzen schicken, zum Einkaufen der Lebensmittel, und auch ein Treibhaus im Hof, hinter der Mauer, wäre sinnvoll, aber er habe schon genug Disziplinarverfahren gehabt. Als er die Isolationskerker als Bestrafung verbot, als er die Wände in den Fluren bemalen ließ, als er Spielautomaten anschaffte, machten ihm seinen Vorgesetzten Vorwürfe und eröffneten eine Untersuchung gegen ihn. Nur weil alle seine Mitarbeiter hinter ihm standen, ist er noch Anstaltsleiter. „Wenn ich jetzt die Gitter abschaffe und ein Kind Selbstmord begeht oder flieht, bin ich meine Arbeit los. Erst müssen die Gesetze und Vorschriften geändert werden, dann können wir eine sinnvolle Arbeit machen“, versichert der ehrlich wirkende Mann, der jetzt aufgeregt im Raum hin und herläuft.
In einem vergitterten Klassenraum hocken 20 kahlgeschorene zehn- bis 14jährige Jungen im blaugrauen Anstaltsdrillich auf Schulbänken. Die hageren Gestalten erinnern an Lagerinsassen. Obwohl sie Kinder sind, haben sie die leidgeprüften Augen alter Menschen. Sie sind für die Gäste aus Deutschland zusammengesperrt. Die Milizbeamten verlassen den Raum. Einige Jungen berichten stolz von ihren Taten: Sie haben Autos geknackt und Wohnungen ausgeraubt. Bevor sie in St.Petersburg gefangen wurden, haben sie in den Getreidesilos einer Großbäckerei beim Moskauer Bahnhof geschlafen. Das hatte auch den Vorteil, daß sie Getreide kauen konnten, wenn sie Hunger hatten.
Nach fünf kurzen Minuten kommt der nervöse Direktor zurück: „Glaubt ihr denn, daß ihr zu Recht hier eingesperrt seid?“ fragt er die Jungen. „Ja“, antworten sie im Chor, wohl wissend, daß dies die klügere Antwort ist.
In einem Extrazimmer warten die isolierten Wladimir und Olek, die von der Bahnhofsmiliz am Zug nach Moskau gefaßt wurden. Wladimir, der Sprecher der beiden Ausreißer, erklärt, daß sie hier gut behandelt würden und der Milizionär auf dem Bahnhof ihn auch nicht geschlagen hätte.
In Moskau hätten sie, solange er dort noch liege, Lenin im Mausoleum besichtigen wollen, grinsen die Spitzbuben, bereit, jede Geschichte zu erzählen, die ihre Situation in dieser Anstalt verbessert.
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