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Bremen vor dem Angriff

■ Bremer Radio-Mitschnitte aus dem 2. Weltkrieg gefunden / Heute Sendung

So sah die Hemelinger Straße Numero 37 im Jahre 1944 aus.Foto: Archiv

Ein Glück, daß der Radio-Bremen-Redakteur Michael Augustin manchmal in Antiquariaten herumguckt. Dort kam er 1983 ins Gespräch mit einer Bremerin, die ihm von „komischen Rollen und Filmdosen“ erzählte, die ihr Bruder, bei den Nazis Filmvorführer, ihr hinterlassen habe. Ob er als Journalist sich dafür interessiere? Und ob.

Augustin bekam zwei rostig- blecherne Filmdosen mit zahlreichen labberigen, stockfleckigen Schallplatten. Auf die hatte Filmvorführer Stöver während der Kriegsjahre in seinem Schwachhauser Dachzimmer Radio-Sendungen aufgenommen, manch

hierhin bitte das

Trümmerfoto

mal auch Privates, Kindergeburtstage. Augustin sichtete, kopierte und archivierte seinen Fund. Und der Bremer Autor Detlef Michelers machte aus den einmaligen Ton-Dokumenten zum Kriegsalltag in Bremen eine einstündige Radiosendung.

Heute abend können Sie sie hören: mit dem typischen Knistern, mit langen Pausen, wie sie heute jede RadiomacherIn in Panik versetzen würden: einmalige Ton- Dokumente aus dem Kriegs-Alltag, über die ersten zehn Tage der alliierten Invasion in der Normandie, über zehn Juni-Tage des Jahres 1944, „eine Mischung aus Hetze, Häme und Unterhaltung,

Halbwahrheiten, Lügen und Fanatismus“, erklärt der einleitende Vorspann.

Wer aber nur demagogische, geifernde Propaganda-Reden erwartet, wird überrascht. Viele Berichte leben von der schrecklich nüchternen, Sachlichkeit ausstrahlenden Nachricht und sind durch ihre Radiosprache um so glaubwürdiger. Nur ab und zu konfrontiert Michelers sie mit der Erzählerstimme, die dem Nazi- Funk historische Wahrheiten entgegenstellt, etwa Briefstellen von Soldaten.

Aus einem Bericht von der Front: „Eisenhower wollte uns überraschen. Er hat sich verrechnet. So wie es bekannt war, geübt war, in den Herzen der Soldaten seit Monaten brannte, so haben wir zurückgeschlagen, und zwar sofort. Wir waren nicht einen Augenblick und an keiner Stelle überrascht....“

Als roter Faden zwischen den Fontberichten und Reportagen: die Luftlage-Meldungen, direkt von der Kreisleitung der NSDAP, aus dem Bunker im Bürgerpark: „Im Reichsgebiet befinden sich keine feindlichen Flugzeuge. Ende der Luftmeldung.“

Dramaturgie der Sendung: „Feindmaschinen“ tauchen auf, sind 40, 30, 20, schließlich 5 Flugminuten von Bremen entfernt: „Mit Bombenabwurf muß gerechnet werden.“ Dazwischen immer wieder Orchestermusik, wie sie in jenem Juni 1944 aus den Bremer Volksempfängern kam, Lieder wie „Puppchen, du bist mein Augenstern“, Märsche. Dann der Angriff.

Das Radio kennt nur Feinde und harte Ziele, keine Menschen, kaum eigene Opfer. Es geht „um große Entscheidungen, in denen die abendländische Kultur durch Deutschland verteidigt wird“. Engländer und Amerikaner als „Abschuß“: “Es war der 60. Abschuß, den sie verbuchen konnten, und ich bin glücklich, daß es wieder ein Egländer war“, jubelt ein Reporter.

„Wie beim Golfkrieg“, finden heute Michelers und Augustin, „kaschieren, verschleiern, belügen“. Nur, daß es 1944 keine Hinweise gab auf zensierte Berichterstattung, keine Debatten über die Grenzen des Mediums. S.P.

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