: „Bei mehr als sieben wird es kritisch“
HBV-Chef fordert radikale Gewerkschaftsreform/ Holding-Gewerkschaften sollen Schlagkraft erhöhen ■ Von Martin Kempe
„Es geht nun wirklich nicht darum, eine Superschönheit zu werben“, meinte der Vorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Lorenz Schwegler, Ende letzter Woche auf der Jahrespressekonferenz seiner Organisation. Im Disput um eine Reform des Deutschen Gewerkschaftsbundes und die Zusammenarbeit mit der konkurrierenden Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) fühlt sich der agile HBV-Chef neuerdings in einer starken Position. Denn die HBV ist eine der großen Gewinnerinnen der deutschen Einheit — und die DAG segelt seit dem 9. November auf der Verliererbahn. Mehr als 300.000 neue Mitglieder in Ostdeutschland haben die HBV in den letzten beiden Jahren auf knapp 740.000 Mitglieder hochgetrieben und sie damit zur gewichtigsten Angestelltenorganisation der Bundesrepublik gemacht, während die DAG mit ihren Bemühungen im Osten kläglich gescheitert ist und weiterhin bei rund einer halben Million Mitglieder hängengeblieben ist. Schwegler versucht seit einiger Zeit, sich als Vordenker für eine umfassende Gewerkschaftsreform zu profilieren. Sein Vorschlag: Die derzeit 16 Mitgliedsgewerkschaften des DGB sollten sich zu „weniger als 10“ großen Holding-Gewerkschaften zusammenschließen. Zentralisiert werden sollten nach Schweglers Auffassung bestimmte bürokratische Abläufe, Mitgliederverwaltung, Pressewesen usw., während für die unmittelbare Mitgliederbetreuung eine Dezentralisierung sowohl in der Region wie nach Branchen notwendig sei. Die derzeitige Struktur der Einzelgewerkschaften mit der mächtigen, über drei Millionen Mitglieder starken IG Metall auf der einen, der gerade mal knapp über 100.000 Mitglieder schwachen IG Leder auf der anderen Seite, war schon vor 1989 ein Anachronismus, der sich allerdings seit der Wende verstärkt hat. Die kleinen Gewerkschaften sind schon lange nicht mehr in der Lage, eine flächendeckende Betreuung ihrer Mitglieder zu gewährleisten, und dümpeln häufig ein tiefer Provinzialität und Anspruchslosigkeit vor sich hin.
Das neue Prinzip unter den DGB- Gewerkschaften müsse eine „Balance of Power“ zwischen einigen, annähernd gleichgewichtigen Holding-Gewerkschaften sein, meint Schwegler und erinnert, was die optimale Zahl dieser Organisationen angeht, an eine Grundregel des Unternehmensmanagements: „Bei mehr als sieben Unterstellungsverhältnissen wird es kritisch.“ Wie die neuen Holding-Gewerkschaften im einzelnen zugeschnitten sein sollen, darüber schweigt sich der HBV-Vorsitzende, wohl um die Empfindlichkeiten seiner Kollegen in den anderen Mitgliedsgewerkschaften wissend, beharrlich aus. Der kürzlich angekündigte Zusammenschluß der Industriegewerkschaften Chemie, Papier, Keramik sowie Bergbau und Energie ist zweifellos ein Schritt in diese Richtung. Und eine seit längerem bestehende Kooperation zwischen der IG Textil und der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten weist in dieselbe Richtung.
IG-Metall-Chef Steinkühler, von dem immer wieder der Ausspruch kolportiert wird, ihm sei es egal, wer unter ihm DGB-Vorsitzender ist, hat sich zu der Diskussion um eine DGB- Reform bisher nicht geäußert. Auch die zweite Großgewerkschaft, die ÖTV, hat bisher geschwiegen. Aber es ist kein Geheimnis, daß sie die Diskussion mit höchstem Mißtrauen beobachtet. Denn im Gegensatz zur IG Metall könnte sie von einer Neukonzeption der DGB-Strukturen negativ betroffen werden. Der Energiebereich und die Sparkassen, die in Westdeutschland bislang von ihr betreut wurden, in Ostdeutschland aber von der IG Bergbau und von der HBV, sind schon jetzt umstritten. Auf der anderen Seite spräche vieles dafür, einige kleinere Berufsgewerkschaften des öffentlichen Dienstes, wie die Gewerkschaft der Polizei (GdP) oder die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), in eine große Holding-Gewerkschaft zu integrieren. Daß aber Mitglieder und Funktionäre dieser Gewerkschaften sich darauf einlassen, ist eher unwahrscheinlich.
Für seinen eigenen Bereich schwebt dem HBV-Chef Schwegler eine große Dienstleistungsgewerkschaft unter Einschluß der DAG vor. Schwegler ist sich klar, daß dies für die nicht nach Branchen, sondern nach arbeitsrechtlichem Status organisierte Angestelltenorganisation kaum zu verdauen ist. Denn sie ist nur mit knapp der Hälfte ihrer Mitglieder im HBV-Bereich vertreten. Andere größere „Überschneidungen“ hat sie im öffentlichen Dienst mit der ÖTV, während sich die übrigen Mitglieder quer über alle Industriebranchen verteilen. Grundsätzlich, glaubt Schwegler, müsse das Prinzip „eine Branche — eine Gewerkschaft“ auch in Zukunft fortgelten. Einen einfachen Beitritt der DAG zum DGB unter Beibehaltung ihres „ständischen“ Organisationsprinzips lehnt er ab. Aber er weiß auch, daß er von der DAG nicht einfach die Selbstauflösung verlangen kann. Sowohl die Funktionäre wie auch Mitglieder müßten sich in einer neuen Struktur „wiederfinden“.
Möglicherweise wären da die Vorstellungen des HBV-Vorsitzenden für eine künftige eigenständigere Rolle des DGB ein Angebot. Der DGB nämlich war — im Verhältnis zu seinen Einzelgewerkschaften — noch nie so machtlos wie heute. Er kann — ohne eigene Mitglieder — „nicht auf das lebendige Engagement der Menschen“ aufbauen, sondern ist allein auf die Kooperationsbereitschaft der Einzelgewerkschaften angewiesen. Die aber sind auf die betriebliche Arbeit in ihren Branchen fixiert und haben kaum Verständnis für die Notwendigkeit branchenübergreifender gewerkschaftlicher Arbeit. Andererseits aber ist eine überbetriebliche soziale Interessenvertretung in der Kommune und in der Region wichtiger als je zuvor. „Der DGB muß in Zukunft stärker werden, als er es heute ist“, meint Schwegler. Er schlägt deshalb eine Doppelmitgliedschaft für alle gewerkschaftlich organisierten Menschen vor: unmittelbar beim DGB und bei ihrer jeweiligen Einzelgewerkschaft. Der DGB erhielte dadurch die Möglichkeit der direkten Mitgliederwerbung. Und mit der Legitimation durch eine eigene Mitgliederbasis könnte er auch gegenüber den zukünftig größeren Einzelgewerkschaften eine größere politische Selbständigkeit entwickeln als heute.
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