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Schlammschlacht der Medien

■ Von Prozeßbeginn an gab es eine unselige Verquickung von „Journalismus“ und Mandat

Das Protokoll klingt harmlos, nach Routine und enthält auch nur die halbe Wahrheit: „Am 05.02.1989, um 23.40 Uhr, Festnahme des Gueffroy, Chris, geb.: 21.06.1968 [...] und des Gaudian, Christian [...] durch eingesetzte GP [Grenzposten] im Abschnitt ca. 300 m ostwärts der Straße 16 in Berlin-Treptow. Die Täter überwanden unerkannt ohne Hilfsmittel die Hinterlandssicherungsmauer und lösten um 23.39 Uhr den 5 m entfernten GSZ [Grenzsignalzaun] aus. Die 200 m ostwärts und 300 m westlich des Tatortes auf dem Kolonnenweg eingesetzten GP „Straße 16“ und Britzer Allee“ führten sofort grenztaktische Handlungen durch und nahmen beide GV [Grenzverletzer] fest.“ Verfasser dieser „Tagesmeldung Nr. 035/89“ ist der „Operative Diensthabende des Kommandos der Grenztruppen der DDR“. Im Ministerium für Staatssicherheit lief sie unter „Geheime Verschlußsache Nr. G/739022“.

Während der Kommandeur des Grenzregiments 33 Berlin-Treptow die Tagesmeldung in seine Schreibmaschine tippt, ist einer der beiden „Grenzverletzer“, Chris Gueffroy, bereits tot. Laut — gefälschtem — Obduktionsbefund erlag er einer „Herzverletzung“. Chris Gueffroy, zum Zeitpunkt seiner Flucht 20 Jahre alt, ist das letzte Opfer der Grenzsoldaten der DDR. Sein Freund Christian Gaudian überlebt, leicht am Fuß verletzt, den Versuch der Grenzposten, ihn an der Überwindung der Mauer nach Westberlin zu hindern. In einem geheim geführten Prozeß wird er „wegen ungesetzlichen Grenzübertritts in schwerem Fall“ zu drei Jahren Haft verurteilt. Zwei Monate vor der Maueröffnung, im September 1989, lassen die DDR-Behörden „Gnade vor Recht“ walten: Gaudian darf ausreisen.

Ein Jahr später reicht die Mutter des Toten, Karin Gueffroy, bei der Westberliner Staatsanwaltschaft eine Klage ein. Die Ermittlungsakten der DDR-Militärstaatsanwaltschaft haben den 9. November 1989 nahezu vollständig überstanden, und so kann im Fall Gueffroy erstmals das finsterste Kapitel der DDR-Geschichte verhandelt werden: die Mauer vor Gericht. Karin Gueffroy tritt als Nebenklägerin auf. Ihr geht es nicht um Rache, sie will Gerechtigkeit: „Auch die sogenannten Kleinen trugen dazu bei, daß die Maschinerie der DDR am Laufen blieb.“

Angeklagt wegen Totschlags, versuchten Totschlags und Anstiftung zum Totschlag, müssen sich vier ehemalige Grenzsoldaten knapp fünf Monate lang vor dem Landgericht Berlin-Moabit verantworten: der zur Tatzeit 24 Jahre alte Elektromontierer Andreas Kühnpast, der gleichaltrige Melker und Rinderzüchter Peter Schmett, der Fräser Mike Schmidt, zur Tatzeit ebenfalls 24, und der um ein Jahr jüngere Elektromonteur Ingo Heinrich. Von Beginn an wird der Prozeß in der Öffentlichkeit weniger unter juristischen als vielmehr unter politischen Gesichtspunkten betrachtet: Sie erwartet von diesem Prozeß einen Beitrag zur „Vergangenheitsbewältigung“, der die Hintergründe in einem über den Einzelfall hinausreichenden Umfang erhellt.

Doch die Hoffnung trügt. Der Mauerprozeß ist in erster Linie ein Prozeß der Verteidigung, die meist schlagzeilenträchtig und geltungssüchtig über die Köpfe ihrer Mandanten hinweg das Verfahren über weite Strecken zum bloßen Spektakel verkommen läßt. Anwalt Rolf Bossi, der den labilen Andreas Kühnpast verteidigt, glänzt durch Abwesenheit, während seine Kollegen prominente Zeugen in den Gerichtssaal vorladen wollen. Kurz vor der Urteilsverkündung soll sogar der Papst noch nach Berlin-Moabit kommen.

Es ist auch ein Prozeß der Medien. Bereits am 4. Verhandlungstag erstürmt das nur für Ostdeutsche gemachte Wochenblatt 'Super Illu‘ den Höhepunkt des Medienspektakels: Ein 'Super‘-Reporter verteilt Dutzende druckfrischer Exemplare mit doppelseitigen Farbfotos des toten Gueffroy — nackt auf dem Steinboden im Obduktionslabor, die Augen starr, deutlich zu erkennen Leichenflecken und Schußwunden. Die Fotos stammen aus den Ermittlungsakten. Bis heute ist nicht geklärt, wer sie an das Blatt aus dem Burda-Verlag — das im übrigen überwiegend von West-Journalisten gemacht wird — verschachert hat. Klar ist nur: Bei Sensationsprozessen hat sich eine Verquickung von Journalismus und Mandat eingebürgert. Steffen Ufer, der den Angeklagten Schmett vertritt, tut dies „im Auftrag von 'Super Illu‘“ — gegen Geld. Und Bossi, den man einen Staranwalt nennt, erhält einen „kleinen Honorarbeitrag“ über 10.000 Mark von der Illustrierten 'Stern‘.

Die enge Zusammenarbeit von Medien und Verteidigung sät Mißtrauen. Strategisch nicht ungeschickt werden Informationen über den Vorsitzenden Richter, Theodor Seidel, breitgetreten: Seidel sei befangen, weil er in den 60er Jahren an Fluchthilfeaktionen beteiligt gewesen sei. Reporter spionieren Seidels Verwandte aus, und für ein paar Tage hat es tatsächlich den Anschein, als wolle Seidel sein Amt niederlegen. Bereits wenige Wochen, nachdem der Prozeß am 2. September 1991 eröffnet wird, spekuliert einer der neun Anwälte, Johannes Eisenberg, in einem Zeitungsinterview über den Ausgang des Verfahrens: „Ich traue mir zu, die wesentlichen Kernsätze der Urteilsbegründung bereits jetzt zu Papier zu bringen. Von diesem Gericht ist kein gerechtes Urteil zu erwarten.“

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