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Kleinschalig, aber großartig

■ Das niederländische Off-Theater: Zum Untersuchungsgegenstand avanciert

Holland ist ein kleines und überschaubares Land, und es ist flach, so daß seine Bewohner außerdem über den Tellerrand hinaussehen können. Die Zeit, als diese ihre Schiffe über das Wasser zur Eroberung oder Unterwerfung der Welt ausschickten, liegt lange zurück. Größenwahn scheint nicht ihr Fall. Anfang der siebziger Jahre wurde in der alternativen Ökonomie ein Begriff geprägt, der auf das holländische Theater übertragen wurde: kleinschalig Theater, was man am ehesten mit einer Vorliebe für das Kleine umschreiben könnte. „Allgemein gesagt“, schreibt Martin Frey in seinem Buch über die niederländische Off-Szene, „trifft die Bezeichnung ,kleinschalig‘ immer dann zu, wenn Menschen sich entschließen, mit geringem Aufwand, wenig Mitteln, in kleinen Gruppen, in kleinem Kreis, etwas zu realisieren. ,Kleinschalig‘ sagt nichts über eine bestimmte Qualitätszuordnung aus und hat auch nicht unbedingt mit einem Mangel an (finanziellen) Mitteln zu tun, sondern vordergründig mit einer bestimmten Einstellung, sich mit Theater auseinzusetzen.“

Marge oder Margetheater kommt von marginal, am Rande sein; im Englischen heißt es fringe und im Amerikanischen sagt man off oder off-off. Im Deutschen hat derjenige, der nicht die amerikanische Variante benutzen will, eine weitere irreführende Definition zur Verfügung: Freie Gruppen, hieß es in Abgrenzung zum hiesigen Stadttheatersystem. Das alles ist längst überholt, die Freien sind entweder eingegangen oder etabliert; in den meisten Fällen wurden sie jedenfalls ästhetisch von den subventionierten Theatern absorbiert, ein Umstand, der das deutsche Theater hier wie dort stagnieren läßt. In den Niederlanden dagegen überlebten die Freien, sprich blieben lebendig; die holländische Theaterszene wurde — neben der flämischen in Belgien — zu einer der innovativsten in Europa. Dank eines großzügigen und auf Kontinuität angelegten Fördersystems, das dezentrale Strukturen zu schätzen gelernt hat.

Und zwar bereits in der Nachkriegszeit, wie Martin Frey in seiner Untersuchung zeigt. Während der deutschen Besatzung konnte das holländische, damals noch zentralistisch strukturierte Theatersystem relativ schnell gleichgeschaltet werden: Die Spielpläne standen unter ständiger Kontrolle der ,Kultuurkamer‘, die Schauspieler und Theatermacher — Juden, das versteht sich, waren ausgeschlossen — in einer ihrer sechs Gilden zwangserfaßt. Nach dem Krieg lernte man aus dieser Erfahrung; die Vergabe der Gelder an die „Repertoiregesellschaften“ in den großen Städten fand nun nicht mehr zentral an einer Stelle statt, etwa einem Kulturministerium, sondern über Stiftungen, in die Kommunen und Regionen einzahlten; Räte oder Kommissionen entschieden über die Höhe der Zuwendungen. Ein bildungsbürgerliches Programm, das die Theater selber nicht eingreifend veränderte, sich jedoch als reformierbar und ausbaufähig erweisen sollte.

Der Einschnitt kam 1969 mit der „Aktiee Tomaat“, der Tomatenwurfaktion, die, wie anderswo auch, den saftigen Durchbruch neuer Theaterformen und kollektiv getränkter Arbeitsweisen brachte. Die Theaterlandschaft kam in Bewegung, wenigen Theaterhäusern standen eine Vielzahl an Gruppen gegenüber. Im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre wurde ein relativ effektives Finanzierungsmodell ausgefeilt, das sowohl eine horizontale wie vertikale Streuung der Gelder und der Inhalte ermöglichen sollte. Die finanziellen Zuständigkeiten wurden zwischen Reich, Provinzen und Gemeinden aufgeteilt, nicht nur feste Gelder an feste Häuser, sondern langfristige Subventionen (über mehrere Jahre) an Gruppen vergeben, Produktionsstätten geschaffen, und in einem dritten Anlauf auch Möglichkeiten für Amateur- und Animationstheater gesichert, damit sich die Theaterszene regenerieren könne, ohne sich untereinander das Wasser abzugraben.

Doch auch die goldene Zeit des holländischen Off-Theaters neigt sich dem Ende zu; die Politiker vergreifen sich an den Etats, die Theaterleute denken an den Erfolg, den sie einspielen müssen. Einer der versiertesten Theaterleute der holländischen Szene, Ritsaert ten Cate vom Amsterdamer Mickery Theater, hat sich seit dem vergangenen Sommer aus dem Geschäft zurückgezogen. Das Mickery, das es seit 1965 an wechselnden Orten gab und sich zu einem Zentrum europäischer Theateravantgarde entwickelt hatte, verfügte bereits in den vergangenen Jahren über kein eigenes Theater mehr, sondern fungierte als Produzent und Koproduzent im europäischen Kontext (u.a. mit den Wiener Festwochen, dem Berliner Hebbel-Theater, der Hamburger Kampnagelfabrik, dem TaT Frankfurt); auch das ist nun vorbei. Renate Klett zitiert ten Cate, den sie für 'Theater heute‘ (Heft 8/91) porträtiert hat, folgendermaßen: „Früher konnten wir eine Gruppe inspirieren oder herausfordern, ohne daß gleich ein marktorientiertes Endprodukt dabei herauskommen mußte. Jetzt geht das nicht mehr, es wird nur noch auf den Erfolg geschaut, nicht mehr auf das Potential.“ Und weiter: „Innerhalb unseres selbstgesetzten Rahmens haben wir alles ausprobiert, was möglich ist, jetzt ginge es nur noch mit einer völlig neuen Struktur weiter, und da ich nicht weiß, wie die aussehen könnte, höre ich auf.“

Martin Freys Arbeit deutet diese Negativentwicklung nur noch an. Seine Untersuchung — an der Uni Wien entstanden — ist Bestandsaufnahme und vorläufige wissenschaftliche Auswertung jener goldenen Zeit zugleich; etwas dröge, eigentlich spannend und schon wieder passé. Sabine Seifert

Martin Frey: Creatieve Marge. Die Entwicklung des Niederländischen Off-Theaters. Böhlau Verlag Wien 1991, 168 Seiten, brosch. 43 D- Mark.

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