: Das Mysterium der Akten und des grauen Koffers
■ Die Mielke-Akten sind unvollständig: Der entscheidende Band XI fehlt, und es ist rätselhaft, wer die Gerichtsakten „fand“/ VON H.D. HEILMANN
Die Akten des derzeitigen Mielke- Prozesses waren ursprünglich die Akten des Verfahrens „gegen Thunert und Genossen“ — Aktenzeichen: I. Pol. a. k. 7/34. Im Jahr 1935 bestanden sie nachweislich aus zwölf Bänden Hauptakten, drei Gnadenheften, drei Vollstreckungsheften. Darüber hinaus existierten damals acht Sonderbände, zwei Bände Handakten der Staatsanwaltschaft, eine Lichtbildermappe, die vermutlich Fotos vom Tatort und Obduktionsfotos der 1931 auf dem Bülowplatz erschossenen Polizeioffiziere Lenck und Anlauf enthielt, und ein Umschlag mit Lichtbildern der 1934 im sogenannten Bülowplatz-Prozeß zum Tode verurteilten Angeklagten Michael Klause, Max Matern und Fritz Bröde.
1939: Keine Auslieferung Mielkes gefordert
Nachdem das Urteil von 1934 ein Jahr später rechtskräftig geworden war, wurde dieser Aktenberg noch ein paarmal zwischen verschiedenen Behörden hin und her geschoben. So zum Beispiel, als Ende August 1939 aufgrund einer Anfrage der belgischen Botschaft bekannt wurde, daß sich der als einer der beiden Haupttäter angeschuldigte Erich Mielke in Belgien aufhielt. Ein Auslieferungsersuchen wurde damals bewußt nicht gestellt, da es angesichts des politischen Charakters der Anklage aussichtslos sei. Die letzten Aktenvermerke stammen aus dem Jahr 1942.
Danach gliederte die Generalstaatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin die Akten dem Bestand ein, den sie als „historisch wertvoll“ aufgehoben und bombensicher gelagert sehen wollte: ad usum speciale kommender deutscher Juristengenerationen, denen so aus den einstigen Prozessen gegen Marxismus und Judentum Erleuchtung werden sollte. In den Registern des (West-)Berliner Landesarchivs sind die Akten daher unter der Signatur „Pr. Br. Repositur 58, Nr. 52“ vermerkt — gelten aber seit 1947 als „verschollen“.
In diesem Jahr hatte der Generalstaatsanwalt beim Landgericht, Dr. Wilhelm Kühnast, das Verfahren wieder eröffnet, und am 7. Februar 1947 stellte das Amtsgericht Berlin- Mitte gegen Erich Mielke einen neuen Haftbefehl aus. Zwar war Berlin damals noch ungeteilt, doch die späteren Fronten waren längst klar. Eine Anklage auf der Grundlage von Nazi-Akten war zumindest nicht unproblematisch. Außerdem war der als Polizistenmörder beschuldigte Mielke inzwischen selbst Polizist — und im Besitz des richtigen Parteibuchs. Auf Wunsch des sowjetischen Vertreters veranlaßte die Alliierte Kommandantur den Generalstaatsanwalt zur Herausgabe der Akten. Seit dem waren sie „verschollen“.
„Verschollen“ und „aufgetaucht“
Sie tauchten erst wieder im Herbst 1989 auf, als der Bildschirm-Giftnickel Günther von Lojewski im Fernsehen mit den Akten wedelte: Endlich wieder gefunden! Der Doppelmörder Mielke...! Zu Beginn des derzeitigen Prozesses, vor drei Wochen, berichtete die 'Frankfurter Rundschau‘: „Unvermutet tauchten die Ermittlungsakten und die Anklageschrift — das Urteil aus dem Jahre 1934 war schon zuvor in West-Berlin gefunden worden — vor dem Ende der DDR wieder auf. In einem grauen Koffer in Mielkes Wohnung fand sich ein Aktenbündel, zusammengehalten durch einen Soenneken-Schnellhefter.“ Diese Variante der Geschichte war verschiedentlich zu hören und zu lesen, seitdem die Berliner Staatsanwaltschaft durch ihre Justizsprecherin Fölster am 13. August 1991 hatte verkünden lassen, daß „die Anklage des Generalstaatsanwalts bei dem Landgericht Berlin vom 29. März 1934 dem Angeschuldigten Mielke nunmehr zugestellt werden“ konnte. Auf die Frage, wie denn eineinhalb laufende Meter Akten in einen Koffer oder gar in einen Schnellhefter paßten, antwortete Frau Fölster: „Sie sind im Safe des Herrn Mielke gefunden worden.“
Wie kam die Moabiter Staatsanwaltschaft zu den Akten? Wer hat die Akten auf wessen Anordnung wo und wann „gefunden“, „beschlagnahmt“ oder geraubt? Auf diese Fragen ließ die Moabiter Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 31. Januar 1992 dem Autor mitteilen: „Keine weiteren Auskünfte.“
Der Stellvertreter Mielkes, Rudi Mittig, und der Nachfolger im Amt für Nationale Sicherheit, Wolfgang Schwanitz, erklärten, sie hätten von Mielke zwei leere Panzerschränke übernommen. Dazu würde die in der Presse ohne Beweise kolportierte Behauptung passen, die Akten seien in der Mielke-Wohnung gefunden worden. In der schon zitierten Presseerklärung der Berliner Justiz vom 13. August 1991 heißt es jedoch: Die Akten seien „erst anläßlich einer Durchsuchung am 23. Februar 1990 durch den Generalstaatsanwalt der ehemaligen DDR in den Diensträumen des Angeschuldigten in der Normannenstraße sichergestellt“ worden. Ein Beschlagnahmeprotokoll gibt es bisher nicht. Der damalige Generalstaatsanwalt der DDR, Hans-Jürgen Joseph, hat die Akten nie gesehen — auch keine „Koffer“. Als er den angeblich roten Koffer mit den Honecker-Papieren sehen wollte, erfuhr er vom ermittelnden Zentralen Kriminalamt der DDR, daß diese dem Staatsschutz im Westen übergeben worden seien... Wenn die Mordprozeßakten aber tatsächlich bei einer Durchsuchung am 23. Februar 1990 in den Diensträumen gefunden worden sind, dann müßte es darüber ein Beschlagnahmeprotokoll und eine Befragung des U-Häftlings Mielke geben.
Als die DDR-Justizbehörden am Tag der Wiedervereinigung ihre Akten übergaben, waren weder ein grauer Koffer dabei, noch die Akten des Bülowplatz-Verfahrens von 1934. Laut 'Spiegel‘ wurden sie der Berliner Staatsanwaltschaft vielmehr am 7. November 1990 durch eine „Hamburger Rechtsanwältin“ übergeben. In Hamburg hatten die Akten zuvor Jochen von Lang „zur Verfügung gestanden“; er benutzte sie für sein hingehauenes, weithin fehlerhaftes Buch Erich Mielke. Eine deutsche Karriere. Im Verlagsvorwort vom Februar 1991 heißt es: „Jochen v. Lang hat die lange Zeit unauffindbaren Aktenbände dieses Prozesses studiert.“ Von Lang gibt als Quelle an, daß ihm „die Ermittlungsakten der Generalstaatsanwaltschaft der ehemaligen DDR zur Verfügung gestanden“ hätten. „Aus verständlichen Gründen“ blieben die Helfer ungenannt. Woher hatte von Lang die Akten, gab er sie vollständig und unverändert zurück?
„Verschollen“ aber doch regelmäßig benutzt
Auch wenn die Hauptakten des alten Verfahrens lange Jahre verschwunden waren, war die Kenntnis der alten Nazi-Anklage samt des dreifachen, politischen Justizmordes von 1934 nie unbekannt. Anfang der 80er Jahre wurde in der Aktenablage auf dem Dachboden des Moabiter Kriminalgerichts ein Rest „Nazi-Akten“ gefunden, darunter auch ein Aktenrest aus dem Bülowplatz-Prozeß — kein zusammenhängender Band, eher eine Loseblattsammlung, etwa 30 bis 40 Zentimeter dick. Neben einigen kriminalistischen Ergebnissen, Tatortskizze, Schußversuche und (ergebnisloser) Spurensuche, enthielt diese Papiersammlung die Abschriften von Anklage und Urteil.
Der damalige Westberliner Justiz-Pressesprecher Volker Kähne sichtete dieses Material Mitte/Ende der 80er Jahre unter rein historischem Aspekt für seine Veröffentlichungen über den „Volksgerichtshof“ und über „Gerichtsarchitektur“. Anschließend wanderte der Aktenrest wieder dorthin, wo er hergekommen war. Der Band XI war jedenfalls nicht dabei.
Lange vor Kähne hatte ein anderer einen Blick in Akten des alten Prozesses geworfen: In seiner Arbeit über die Berliner Polizei während der Weimarer Republik bedankte sich der Autor Liang 1970 beim Generalstaatsanwalt a.D. Kühnast dafür, daß er ihm die Einsicht in das Urteil des Bülowplatz-Prozesses ermöglicht hatte. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die Alliierte Kommandantur 1947 die Ablösung Kühnasts betrieb — man warf ihm vor, Akten — auch solche des Volksgerichtshofs — beseitigt zu haben.
Wo ist der wichtigste Aktenband, der Band XI, der das Protokoll der Hauptverhandlung von 1934 und das Original des Urteils beinhaltet? Die Berliner Justiz behauptet, dieser Band sei immer noch „verschollen“. Ist der Band XI deshalb „verschollen“, weil dort die Verhandlungsführung des damaligen Schwurgerichts dokumentiert ist, weil dort protokolliert ist, daß Angeklagte mißhandelt wurden?
Zu dem heutigen alt-neuen Mielkeprozeß trieb nicht die Staatsanwaltschaft, der Anstoß kam, so sagt man in Moabit, „von ganz oben“, von der Justizsenatorin Jutta Limbach (SPD) persönlich. Es geht ihr nicht ums Recht, sondern um sozialdemokratischen Populismus. Aus der Giftküche des SPD-Parteivorstandes der 50er Jahre, dem „Ostbüro“, stammt die Broschüre der „Fall Mielke“, in der bereits kräftig aus den — angeblich „verschollenen“ — Nazi-Akten von 1934 geschöpft wurde. Dort hieß es prophetisch: „Noch immer ist der Mord an den beiden sozialdemokratischen(!) Polizeioffizieren Lenck und Anlauf nicht gesühnt. Die Mörder sind unter uns. Erst in einem wiedervereinigten Deutschland in Freiheit erfolgt die gerechte Sühne.“
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