: Warum wandern die Völker?
Über den Umgang mit den Fremden ■ VONANTJEVOLLMER
Einfache Frage — einfache Antwort: Die Völker wandern, weil sie immer gewandert sind. Wir haben das nur aus unserem historischen Bewußtsein verdrängt, wenn man mal das Fernweh außer acht läßt, das uns quartalsmäßig überfällt, oder jenen eigenartigen Trieb, der die Menschen Wochenende für Wochenende in die großen Staus auf den Autobahnen nötigt. Mag sein, daß dies ganz ferne Erinnerungen daran sind, daß die Menschen in ihren frühesten Kulturstufen immer als Jäger und Sammler in Bewegung waren.
Die nomadische Zivilisationsstufe ist älter als die der Verwurzelung der Ackerbauern. Die Karawanen und Handelswege der Kaufleute und Seefahrer sind älter als die ortsverbundenen Schutzmauern und Steinbauten der entstehenden Stadtkulturen der Patrizier und Bürger. Seßhaft werden, Städte bauen, das setzt erst später ein und macht dann den Kern der Hochkulturen typisch europäischer Zivilisation aus.
Die Spuren des Menschheitswissens, daß das Wandern einmal der Normalzustand menschlicher Existenz war, weil er das Überleben eher garantierte als die Seßhaftigkeit an einem Ort, finden wir nicht nur in den fortdauernden Kulturen einiger Volksgruppen aller Kontinente (der Sinti und Roma in Europa, der Massai und Beduinen in Afrika, der indianischen Traditionen in Nord- und Südamerika, der Lappen und Eskimos und so weiter), sie haben sich auch in den ethischen Normen fast aller Zivilisationen fest eingeprägt in den Gesetzen der Gastfreundschaft gegenüber Fremden und Schutzlosen. Das Volk Israel etwa hat seine gesamte Gesetzgebung aus den Überlebensbedingungen eines „wandernden Volkes unter dem Schutz seines Gottes“ abgeleitet — mit der zentralen Mahnung der mosaischen Gesetze: „Bedenke, daß du selbst ein Fremdling gewesen bist in Ägypten.“
Daraus leitete sich die moralische Pflicht ab, den Fremden immer aufzunehmen, für ihn Wasser zum Trinken und zum Füße waschen bereitzuhalten, ihn vor Übergriffen zu beschützen, einen Teil der Ernte auf den Feldern zu lassen für vorüberziehende mittellose Fremde. Kurz: Der Fremde stand unter besonderem göttlichen Schutz, er war tabu. Und Sodom und Gomorrha wurde gerade deswegen von der göttlichen Rache getroffen, weil dieses Tabu verletzt und Übergriffe auf Fremde gewagt wurden.
Die Ethik und ein ganzes gesetzförmiges Regelwerk zur Sicherung des Schutzes der Fremden entsteht dabei aus der eigenen historischen Erfahrung der Schutzlosigkeit der Heimatlosen. Die Kultur des Respektes vor den Fremden schreibt nur das vor, was man sich selbst im Bedarfsfall wünscht. Das Nomadentum wiederum hatte zuallererst seine Ursache in den Bedingungen der eigenen Existenzsicherung. Man wanderte, um Wasser und neue Weidegründe zu finden, wechselte die ausgelaugten Ackerböden, siedelte in neu überschwemmten Flußniederungen, wich einer Überbevölkerung in bezug auf bestimmte Jagd- oder Fischressourcen aus. Dieser Typ der Völkerwanderung korrespondiert also mit einer ökologisch angepaßten Lebensweise. Diese, wie bekannt, findet sich heute nur noch an ganz wenigen Orten auf unserem Planeten.
Die zweite Ursache von Völkerwanderung ist seit fünfhundert Jahren die alles dominierende: Millionen von Menschen flüchten vor Kriegen, vor Eroberungen und Verwüstungen, sie wurden versklavt oder aus ihrer Heimat vertrieben. Diese erzwungenen Völkerwanderungen reichen von den Zeiten der großen Kolonisatoren — die alle auch deswegen ein so leichtes Spiel hatten, weil sie auf intakte „Kulturen der Gastfreundschaft“ stießen — bis zu den Fluchtbewegungen der beiden Weltkriege, die den europäischen Kontinent zeichneten. Ihre Ursache ist Gewalt, vor allem militärische Gewalt. Auch diese durch Gewalt erzwungenen Wanderbewegungen haben ihren normativen Niederschlag in Kultur und Rechtsprechung gefunden. Allerdings in drei höchst unterschiedlichen Modellen des Umgangs mit den Fremden.
1.Das Apartheid-System (oder: Beherrsche den Fremden)
In seiner südafrikanischen Variante sichert es die Herrschaft einer durch koloniale Gewalt etablierten weißen Oberschicht über die gesamte einheimische Bevölkerung. In den ehemaligen amerikanischen Südstaaten garantierte es den Ausschluß der als Sklaven importierten Fremden aus dem bürgerlichen Rechtssystem, bei gleichzeitiger Aufnahme in einen patriarchalisch geordneten Familienverband, der zumindest ihr nacktes Überleben garantierte.
2.Das multikulturelle Schmelztiegelkonzept des amerikanischen Nordens und Australiens. Dies erste Großexperiment der Mischung von unterschiedlichen Kulturen ist in seinen Ursachen keinesfalls allein der Aufklärung über die Menschenrechte entsprungen, sondern einer doppelten, eigenen Gewalterfahrung: In Australien wie in den USA wurden die Urbevölkerungen nahezu vollständig vernichtet, um Platz und Raum für die einwandernden Fremden zu schaffen. Und diese selbst waren nichts anderes als die exportierte „soziale Frage“ Europas, sie waren auf der Flucht vor politischer, rassischer oder religiöser Verfolgung. Sie waren auch entflohene Sträflinge, Abenteurer und Glücksritter — ein ziemlich explosives Gemisch von Desperados.
Wenn die Yankeestaaten sich rechtlich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichteten und sich als Einwanderungsland definierten, so entstand dieser historische Fortschritt, weil sie alle Einwanderung in ihrem eigenen historischen Familiengepäck mitbrachten. Ebenso allerdings brachten sie die meist verdrängte Vergangenheit mit, daß sie auf ihrem Weg nach Westen die dort gewachsenen ursprünglichen Kulturen und Völker fast vollständig und brutal ausgelöscht hatten.
Diese doppelte Besonderheit muß berücksichtigt werden, wenn wir heute über „multikulturelle Gesellschaften“ und „Einwanderungsländer“ reden, für die die USA deswegen auch nur ein begrenztes Vorbild sein können. Unsere heutigen sozialen Experimente einer multikulturellen Gesellschaft finden nicht in entvölkerten Landstrichen statt und dürfen sich nicht auf der Basis einer kulturellen Tabula rasa vollziehen. Vielleicht liegt dem Mißtrauen breiter Teile der Bevölkerung gegen das multikulturelle Konzept die vage Völkererinnerung zugrunde, daß — historisch gesehen — die einheimischen Kulturen den Einwandernden in der Regel unterlagen.
3.Das Nationalstaatskonzept oder die Manie der Abgrenzung. Der Kern der Nationalstaatsidee ist die „nationale Identität“. Was diese genau sei, ist nur schwer zu definieren. Es geht dabei offensichtlich um ein „Ding“ im Zentrum der Überlegung, das Staatsmänner immer voraussetzen, ohne es jemals genauer definieren zu können. In der Regel beschäftigen sich die Nationalstaaten auch weniger mit diesem Zentrum und seiner Ausprägung, sondern mit der Peripherie. Sie beschäftigen sich mehr mit den Unterschieden, mit den Abständen, mit den spannungsreichen Verhältnissen zu anderen Nationalstaaten, vor allem mit ihren Grenzen und Abgrenzungen. Die ethnische und die territoriale Festlegung (wörtlich und bildlich übersetzt heißt das: die Bindung an Blut und Boden) sind der Kern des klassischen Nationenbegriffs.
Diese ethnischen und territorialen Festlegungen werden abgegrenzt von anderen definiert, was die Undefinierbarkeit ihres eigentlichen Kerns aufheben soll. Daß diese Nationalstaatsgründungen folglich in der Regel mit Grenzstreitigkeiten und mit Vertreibungen ethnischer Minderheiten, ja oft mit Pogromen verbunden sind, zeigen neuerdings alle Nationalstaatsgründungen in Osteuropa und auf dem Balkan. Nationale und nationalistische „Unzuverlässigkeit“ prägt hingegen alle Gebiete mit kulturellen Mischungen, beispielsweise das Saarland. Der Vorbehalt nationaler Unzuverlässigkeit ihrer Bevölkerung scheint sich regelrecht zu vererben; dabei handelt es sich schlicht um eine Überlebenstüchtigkeit in Grenzgebieten.
Gelingt allerdings die Nationalstaatsgründung oder die Verankerung einer ethnischen, kulturellen oder religiösen Zusammengehörigkeit in einem Nationalstaat, so können Bevölkerungsbewegungen gewaltigen Umfangs fast mühelos integriert werden, wenn sie nur der eigenen Gruppe zugeordnet werden. Beispiele dafür sind die Integration von fast neun Millionen Vertriebenen in die materiell arme frisch gegründete Bundesrepublik, die allerdings mittels des kalten Krieges Aggressionen und Aggressivität nach außen ableiten konnte. Ähnliches ließe sich am Beispiel der Gründung und permanenten Einwanderung in den Staat Israel belegen. Mißlingt allerdings die Nationalstaatsgründung, so kommen die Fluchtbewegungen jahrzehntelang nicht zur Ruhe (Beispiele: die Kurden, die Palästinenser, die Armenier, das Verhältnis Indien Pakistan).
Nationalstaaten sind also ihrem Wesen nach in der Regel abweisend gegenüber Fremden und fremden Kulturen, so flexibel sie auch in der Integration von Bevölkerungsmassen sein können, die der eigenen ethnischen oder religiösen Gruppe zugerechnet werden. Ausnahmen davon gibt es fast nur, wenn innerhalb des nationalen Territoriums noch Gebiete zur Verfügung stehen, wo es noch Natur zu zivilisieren gibt (Beispiele: Australien, Kanada, Tasmanien, Sibirien — auch Israel über lange Zeit) oder wenn man sich von den zeitlich und zahlenmäßig begrenzten Einwanderungen produktionstechnische Fortschritte versprach (Beispiele: die Hugenotten in Preußen, die Deutschen im zaristischen Rußland). Mit Ausnahme dieser besonderen Situationen und Einwanderungsbedingungen gilt aber der Satz: Nationalismus und Fremdenhaß bedingen sich gegenseitig zur Stabilisierung der Nationalstaaten und ihrer Identitätsfindung.
Wir hatten bisher zwei Antworten auf die Themenfrage: Warum wandern die Völker? Die erste Antwort war: Weil sie immer gewandert sind aus Gründen einer ökologisch angepaßten Lebensweise. Die zweite Antwort war: Weil sie vor der Gewalt flüchteten, vertrieben oder versklavt wurden von Sklavenhändlern, Kolonisatoren, ethnisch oder territorial sich abgrenzenden Nationalstaaten. Die dritte Antwort wird — wenn nicht alles täuscht — die vorherrschende für das kommende Jahrtausend sein:
Drittens: Die Völker wandern aus Hunger und weil sie nichts mehr bindet. Es gibt keine letzten Reste unberührter Natur mehr zu zivilisieren. Es gibt keine schwach besiedelten Ausweichgebiete mehr für die Millionen Hungerflüchtlinge dieser Erde. Hunger ist eine unausweichlichere Geißel als politische Unterdrückung, man kann ihm nicht in die innere Emigration ausweichen. Um zu belegen, was mit dem Satz: „Die Völker wandern, weil sie nichts mehr bindet“, gemeint ist, muß man sich nur den afrikanischen Kontinent betrachten.
Seine Bodenschätze sind geraubt, seine Böden verwüstet und vergiftet, seine Eliten wieder und wieder versklavt und außer Landes gebracht worden, heute sind sie korrumpiert und kaum noch in der Lage, sich nach solchem Blutzoll neu wiederzubilden. Seine Grenzen sind ohne kulturelle Rücksicht mit dem Lineal gezogen, seine Kulturen durch westliche Beeinflussung lächerlich gemacht und als Billigramsch verkauft, seine Bauern sind ruiniert durch die Hungerkampagnen der westlichen Agrarexporteure.
Dieser Kontinent ist nach Jahrhunderten solcher kulturellen Verwüstungen durch die scheinbare europäische Hochkultur nicht mehr in der Lage, seine Menschen zu ernähren. Er ist aber auch nicht mehr in der Lage, sie kulturell oder identitätsbildend an sich zu binden. Afrika ist nicht mehr zu helfen, das scheint mir die bittere Wahrheit — es sei denn, Europa entschließt sich zum Prinzip Rückgabe und Entschädigung.
Ob Osteuropa in dieser Hinsicht zu einem zweiten Afrika wird, ist die entscheidende Frage, über die die Politik Westeuropas in den nächsten fünf Jahren entscheiden wird. Wenn wir Europäer schon jede Chance verspielt haben, den afrikanischen Kontinent noch zu retten, gibt es vielleicht noch eine geringe Chance, diesem Ruin nicht noch einen weiteren ganzen oder halben Kontinent hinzuzufügen.
Was folgt daraus? Alles, was überhaupt noch in der Lage ist, Menschen zu binden in Osteuropa, ist zu unterstützen. Das sollten wir auch bedenken bei den notwendigen Kampagnen zur Vergangenheitsbewältigung und der Auseinandersetzung mit den Eliten der sozialistischen Regime. Wenn alles, was in den letzten siebzig Jahren historisch dort gewachsen ist, völlig zerstört werden muß, wird nichts mehr bleiben, was kluge und aufmüpfige Menschen dort auf Dauer halten kann.
Von daher ist der Stolz auf eine nationale und politisch kulturelle Identität trotz aller historischen Lasten zu fördern. Dieser vorsichtige Umgang mit Elementen der nationalen Identität als Möglichkeit, Menschen an ihr Land zu binden, sollte versucht werden, trotz aller Kritik an der ideologischen Ausprägung der Nationalstaaten und trotz seines Mißbrauchs durch rechte Ideologien.
Konkrete politische Planung für Osteuropa muß das Prinzip der materiellen Grundsicherung und der kulturellen Bindungen beachten. Daraus folgt: Infrastruktur und landwirtschaftliche Entwicklung müssen Vorrang vor Industrieprojekten haben. Wer die Industrie entwickeln will, muß die Landwirtschaft stark machen. Wer die städtische, die eigentlich europäische Kultur fördern will, muß die Regionen stark machen. Wer die Toleranz gegenüber Minderheiten fördern will, muß die nationale Identität und Würde unterstützen und achten. Wer die demokratischen Bewegungen stärken will, darf die „Reformer“ nicht demütigen und kriminalisieren.
Eine Schlußbemerkung: Selbst wenn das Unwahrscheinliche gelingen würde, wenn wir Strukturen in Osteuropa fördern würden, die Hunger unterbinden und kulturelle Bindungen stärken, wird der reiche Westen ungeheure Wanderbewegungen integrieren müssen.
Der ethnische Nationenbegriff der Nationalstaaten des 19.Jahrhunderts, der im Faschismus zu rassisch begründeten Völkermorden gesteigert und pervertiert worden ist, er darf die Schwelle zum dritten Jahrtausend nicht überschreiten. Ihn zu überwinden ist Grundvoraussetzung für eine zivile, weltoffene Kultur Europas.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen