: Das neue SDI — von den Sternen auf die Erde geholt
In Washington und Moskau lebt Ronald Reagans „Star Wars“ wieder auf, als Abwehrsystem gegen Atomraketen aus der Dritten Welt. Die neue Begründung hält näherer Prüfung nicht stand ■ Von Jerry Sommer
SDI ist wieder im Kommen. Während der US-Rüstungshaushalt leicht sinkt, plant die Regierung Bush, in den nächsten fünf Jahren insgesamt 40 Milliarden Dollar für das Raketenabwehrsystem auszugeben. „Ich kann mir keinen wichtigeren militärischen Bedarf als SDI vorstellen“, begründete der US-Verteidigungsminister Cheney diese Unsummen. Für 1993 hat der US-Präsident Bush einen Anstieg des SDI-Budgets von 4,1 auf 5,4 Milliarden Dollar beantragt.
Auch in der russischen Regierung haben sich vorerst die Raketenabwehrfans durchgesetzt. Die Zeit ist gekommen, so Präsident Jelzin Ende Januar vor dem UNO-Sicherheitsrat, „ein globales System zum Schutz der Weltgemeinschaft“ gegen Raketenangriffe zu entwickeln. Was für ein „System“ Jelzin vorschwebt und wie es finanziert werden soll, ist selbst außenpolitischen Beratern der russischen Regierung völlig unklar. Sicher ist nur zweierlei: russische Militärs sehen sich unter Hinweis auf die Gefahr einer „islamischen Bombe“ nach neuen Aufgaben um und hoffen sogar, durch die Teilnahme an der „Kontrolle des Weltraums“ (GUS-Verteidigungsminister Schaposchnikow) weiterhin ein bißchen Weltmacht spielen zu können. Vor allem aber wollen die Regierung ebenso wie der militärisch- industrielle Komplex Rußlands US- Gelder anzapfen — „durch die Umorientierung von SDI, um die im russischen Verteidigungskomplex entwickelte Hochtechnologie benutzen zu können“, wie Jelzin vor der UNO offen bekannte.
Die SDI-Behörde in Washington hat auch schon einige Rosinen aus dem russischen High-Tech-Weltraumkuchen ausgeguckt. Auf der Shopping-Liste sind unter anderem der Prototyp eines nuklearen Weltraumreaktors „Topaz 2“, der militärische Satelliten mit Energie versorgen könnte, elektrische Raketen-Antriebssysteme, mit Flüssigkeitsbrennstoff betriebene Raketenmotoren sowie Lasertechnologien für Weltraumwaffen. Für 50 Millionen Dollar möchte die SDI-Behörde in Rußland einkaufen. Damit könnten die SDI-Kosten um vier Milliarden Dollar gesenkt werden, behaupten die kühlen SDI-Rechner.
Bisher hat die Bush-Administration jedoch noch keine Kaufgenehmigung erteilt. Der Wille zur SDI- Gemeinsamkeit ist in Washington begrenzt. Zwar ist inzwischen vereinbart, die Frühwarnsysteme gegen Raketenangriffe beider Länder zu benutzen, aber „eine gemeinsame Produktion wäre recht problematisch“, meinte der stellvertretende US-Präsident Dan Quayle kürzlich.
„Schutz gegen begrenzte Angriffe“
Die heutige SDI-Zielsetzung hat mit Reagans Vision von einem „undurchdringlichen Schirm“ kaum mehr etwas gemein. Das Bush-Kind hat auch einen neuen Namen bekommen: „Global Protection Against Limited Strikes“ (GPALS), „Globaler Schutz gegen begrenzte Angriffe“. Das neue Bedrohungsszenario, gegen das GPALS schützen soll, sieht folgendermaßen aus:
—versehentlicher Abschuß einer Atomrakete (der Ex-Sowjetunion)
—Abschuß einer oder einiger Atomwaffen durch einen verrückten Kommandanten eines ex-sowjetischen U-Bootes
—Angriff eines „Dritte-Welt- Diktators“ mit wenigen Atomwaffen auf die USA beziehungsweise auf US-Truppen oder US-Verbündete irgendwo auf der Welt — das heute zweifellos attraktivste Pro-SDI-Argument.
GPALS soll in seinem Endstadium einen Raketenangriff auf die USA von maximal 200 Sprengköpfgen abwehren können. Dafür sind vorgesehen:
—weltraum- und landgestützte Sensoren, Radare und Kommunikationsstationen, die ankommende Raketen frühzeitig erkennen, verfolgen und Einsätze der Abwehrwaffen koordinieren können;
—etwa 600 bis 800 in sechs Raketenabwehrstellungen auf US-Boden stationierte Abfangraketen (anvisierter Stationierungsbeginn: 1996/97)
—sowie rund 1.000 im Weltraum stationierte Abfangraketen vom Typ „Brilliant Pebbles“ (anvisierter Stationierungsbeginn: 2000).
Zusätzlich zum Schutz der USA vor Angriffen mit Langstreckenraketen ist nun ins GPALS-Programm auch die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen integriert, die gegen US-Verbündete und US-Truppen in aller Welt gerichtet sind. Neben den im Weltraum kreisenden Brilliant Pebbles, die laut SDI-Behörde in der ganzen Welt angreifende Raketen mit einer Reichweite über 500 Kilometer unschädlich machen sollen, werden dafür spezielle, mobile bodengestützte Abfangraketen entwickelt (Stationierungsbeginn: ab 1995).
„SDI ist nicht machbar“, hieß zu Recht ein wichtiger SDI-Einwand, als Reagan sein System zur Abwehr eines massiven sowjetischen Erstschlags mit Tausenden von Atomsprengköpfen propagierte. Heute bezweifeln selbst SDI-Kritiker nicht, daß ein Abwehrsystem gegen eine weit geringere Anzahl von Raketen in Zukunft — noch ist die Forschung nicht soweit — technologisch durchaus machbar sein könnte. Allerdings teilen sie nicht die Technologie- Gläubigkeit des Pentagon und weisen auf die schlichte Wahrheit hin, daß bei jedem hochkomplizierten System Fehler auftreten.
„SDI ist Teil einer Erstschlagsstrategie, gefährdet den Weltfrieden und führt unweigerlich zu einer Verschärfung des Wettrüstens zwischen den Supermächten“, lautete der zweite Einwand. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben nicht einmal die größten US-Falken mehr Erstschlagsträume. Auch weitere atomare Abrüstung erscheint selbst mit einem kleinen SDI-System durchaus vereinbar. Tiefere, gegen null gehende Einschnitte in die Nuklearpotentiale beider Seiten könnten allerdings erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Denn amerikanische wie russische Militärs würden, trotz möglicher politischer Freundschaft und Kooperation in der Raketenabwehr, nicht die theoretische Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag verlieren wollen.
Proliferations- Fatalismus
Aber auch die „modernen“ Pro-SDI- Argumente stehen auf wackligem Grund. Die Wahrscheinlichkeit von versehentlichen und unauthorisierten Abschüssen einzelner Atomraketen der GUS, gegen die GPALS die USA ja schützen soll, ist schon jetzt angesichts der vorhandenen Sicherheitssysteme „sehr, sehr gering“. Das jedenfalls stellte der ehemalige Generalstabschef der USA, William Crowe, fest. Will man einen noch besseren Schutz, könnte man allen Raketen der Ex-Sowjetunion und der USA einen Befehl zur Selbstzerstörung einprogrammieren, der gegebenenfalls aktiviert werden kann.
Ebenfalls hält der Fatalismus, mit dem zur GPALS-Legitimation eine Proliferation von Atomwaffen- und Raketentechnolgie in Entwicklungsländer vorausgesehen wird, einer näheren Prüfung nicht stand. Die Gefahr sei eingrenzbar und auf nur wenige Länder begrenzt, meint unter anderen der Proliferationsexperte Thomas Graham von der University of California. Nach seiner Auflistung gibt es außer den fünf offiziellen Atommächten vier „de facto- Atommächte“: Israel, Indien, Pakistan und Südafrika, vier „fortgeschrittene Schwellenländer“: Argentinien, Brasilien, Südkorea und Taiwan sowie fünf „potentielle Schwellenländer“, die ein Interesse an Nuklearwaffen gezeigt, aber wohl gegenwärtig nur begrenzte technische Möglichkeiten zu ihrer Entwicklung haben: Algerien, Iran, Nachkriegs-Irak, Libyen und Nordkorea.
Von diesen 13 potentiellen und De-facto-Nuklearmächten haben Südkorea und Taiwan ihre Programme auf Druck der USA schon seit längerem eingestellt. Südafrika, Argentinien und Brasilien haben in den vergangenen zwölf Monaten ihren nuklearen Ambitionen öffentlich und freiwillig abgeschworen. Iraks nukleares Potential wird — trotz mancher Streitigkeiten und Verzögerungen — unter Aufsicht der UNO zerstört. Nordkorea hat sich unter diplomatischem Druck (und nach dem Rückzug der US-Atomwaffen aus Südkorea) prinzipiell bereit erklärt, seine Atomanlagen der bisher verweigerten Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) zu unterwerfen. Selbst Vertreter des US-Außenmisteriums bezeichneten die CIA-Behauptung, Nordkorea bräuchte nur noch wenige Monate bis zur Bombenproduktion als „absolute Worst-worst-case-Analyse“.
Diese Entwicklungen sind nicht irreversibel. Auch zeigen andere Länder wie zum Beispiel Pakistan, Indien oder Israel keinerlei Bereitschaft, von ihrem vorhandenen Atomwaffenpotential zu lassen. Trotzdem zeigen die positiven Beispiele, daß durchaus Erfolge gegen die Proliferationsgefahren zu erzielen sind — erst recht jetzt, wo dieses Thema ins Rampenlicht der internationalen Politik gerückt ist.
Bedrohung „gleich null“
Doch selbst im schlimmsten Proliferationsfall würden neue Atommächte in den nächsten zehn Jahren bestensfalls Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite — gegen regionale Kontrahenten — entwickeln. Davon gehen im Unterschied zu den Horrorszenarien aus dem Pentagon Rüstungsexperten unterschiedlicher Couleur übereinstimmend aus. „Eine Bedrohung amerikanischen Territoriums durch Raketen“ — der GPALS-Ernstfall also — „wird über das Jahr 2000 wahrscheinlich gereing oder gleich null bleiben“, schätzt zum Beispiel Lewis Dunn, zwischen 1983 und 1987 stellvertretender Chef von Reagans „Abrüstungs“-Behörde, ein; selbst die Wahrscheinlichkeit, daß Länder des Nahen Ostens (außer Israel) oder Nordafrikas bis zum Jahre 2000 eine Waffe haben, mit der „London oder Paris“ erreicht werden kann, ist seiner Meinung nach „gering“.
Sollten „verrückte Dritte-Welt- Führer“, wie es in der Herrensprache der Ersten Welt heißt, tatsächlich die USA nuklear bedrohen (in Kenntnis ihres sicheren Untergangs), nützt GPALS ohnehin nichts. Denn statt Langstreckenraketen zu bauen, würden Terroristen oder „Dritte-Welt- Diktatoren“, so urteilte Davbid Jones, ein anderer ehemaliger US- Stabschef, „eine Atomwaffe viel eher in einem Flugzeug oder einem Schiff, das in einen unserer Häfen segelt, oder auf ähnliche simple Weise in die USA schaffen“. Statt SDI aufzubauen, sollten die USA lieber den Zoll ausbauen, wenn sie sich vor Atomterroristen schützen wollten, empfahl deshalb der ehemalige US- Verteidigungsminister Harold Brown seinen Nachfolgern sarkastisch. „Wenn ein Land uns so sehr mit einem Atomangriff drohen würde, würden wir dann nicht seine Raketen präventiv zerstören, wie wir das im Irak getan haben?“ fragt schließlich der SDI-Kritiker John Pike.
Noch, daran muß überdies erinnert werden, sind die für GPALS benötigten Technologien nicht entwickelt. Einige wichtige Tests schlugen in der vergangenen Jahren sogar fehl.
Laut Aussagen der SDI-Behörde soll GPALS etwa 41 Milliarden Dollar (in Preisen von 1988) kosten: 22 Milliarden für die landgestützten Abfangraketen zum Schutz der USA, zehn Milliarden für Brilliant Pebbles und neun Milliarden für die mobilen Abwehrwaffen gegen Kurzstreckenraketen. Da die Kosten sich in der Regel verdoppeln, geht Spurgeon Keeny von der Washingtoner „Arms Controll Association“ von realen Aufstellungskosten von hundert Milliarden Dollar aus.
Eine Lösung für dieses Geldproblem hat die Bush-Administration allerdings schon im Auge: Wie schon im Golfkrieg sollen die Verbündeten für GPALS zahlen.
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