■ Der islamische Autor Yousef Ali Mirshakkak über Religion, Intellektuelle und die Renaissance im Iran

Wenn wir auf Fundamenten bestehen, so ist das deshalb, weil wir nicht nur an Erscheinungen interessiert sind, sondern das Wesen des Westens selbst ändern wollen. Der Westen bewegt sich sogar selbst auf verschiedenen Wegen in diese Richtung. Denn der westliche Mensch ist heute seiner selbst müde und kann sein eigenes Dasein nicht mehr ertragen. Nicht Maschinen und Technologien sind es, die ihn in diese Lage gebracht haben, sondern es ist die Dominanz und Herrschaft des Kapitals. Keine andere Macht oder Zivilisation ist so mächtig aufgestiegen und so schnell wieder gefallen wie Amerika, jetzt aber nähert es sich seiner eigenen Vernichtung. Das 21.Jahrhundert wird Zeuge des Falls der Macht Amerikas sein.

Demokratie ist nur sinnvoll, wenn die Menschheit den Zustand der Vollkommenheit erreicht hat

Amerika hat sich selbst zerstört durch eine Täuschung, die sie Demokratie nennen. Demokratie aber ist nur sinnvoll, wenn die Menschheit den Zustand der Vollkommenheit erreicht hat; vorher führt sie nur zu Korruption und Erniedrigung. Jeder Bürger, gleich welcher Klasse, ist unter Druck; die Klassen werden sich gegenseitig auffressen. (...)

Der Westen hat eine existentielle Krise erreicht: Technologien entwickeln sich mit großer Geschwindigkeit, aber es sind nicht das Volk, nicht die Technologien, nicht einmal die Erfinder, die dafür verantwortlich zu machen sind; die Technik hat ihr eigenes Momentum entwickelt. Die Menschen in Ost und West sind nur noch Konsumenten und nicht mehr in der Lage, die Technologien zu zügeln oder ihr eigenes Schicksal zu steuern.

Der westliche Mensch hält sich angesichts der Illusion seiner industriellen Superiorität nur selber für menschlich und uns hier im Osten für peripher. Die Schriftsteller und Dichter der Dritten Welt, die in den Westen reisen, machen diese Idiotie mit. Aber kennen oder repräsentieren sie wirklich ihr eigenes Volk, diese Pilger ins Mekka des Westens, die nichts von uns und unserer Wahrheit mit sich bringen? Intellektuelle des Ostens und besonders unseres Landes repräsentieren nichts als ihren eigenen Hunger für den Westen. Aber unser Intellektueller ist arm, rückständig, wurzellos und hat keine Identität. Er will den Westen nur für sich selbst und tritt nie auf als Teil einer Massenbewegung; er ist immer ein Einzelgänger. Ihm fehlen die Wurzeln in seiner eigenen Gesellschaft; er ist nichts als ein Westler, der im Osten lebt. Er hat kein Interesse an östlichen Traditionen, und nicht einmal den Westen kennt er wirklich, sondern sieht nur das äußere Gesicht und die Welt der Waren.

Unser Intellektueller denkt, daß es hier Zensur gibt, unser Volk jedoch hat damit kein Problem. In unserem Land herrscht Inflation, und die Menschen beklagen sich nicht nur darüber, sondern sie machen sich lustig über die Verantwortlichen, und zwar in einer Sprache, die eingehen wird in die Geschichte der iranischen Satire. Kein anderes Volk kreiert eine so bissige Satire im Alltag wie wir.

Unsere Intellektuellen sind denen des Westens um zwei Jahrhunderte hinterher

Unser Intellektueller aber macht einen Film, nur um sich selbst und seine Freunde zufriedenzustellen. Die meisten Filme, die im Westen auf Festivals geehrt werden, sind von dieser Art. Unser Volk hat mit diesen Filmen nichts zu tun, aber unser Intellektueller ist dumm: Er meint, er kann bessere Filme machen als Fred Zinneman oder Akira Kurosawa und begreift nicht, daß er Filme für alle machen sollte. Unsere Intellektuellen sind denen des Westens um zwei Jahrhunderte hinterher, und unsere religiösen Intellektuellen sind sogar acht Jahrhunderte im Rückstand. Es gibt zur Zeit in unserer Islamischen Republik eine selbsternannte „Islamische Renaissance“. Portraits, die unserer Malerei verboten sind, weil sie ein Hindernis auf dem Weg zur Entwicklung und Vollendung der Menschheit darstellen, werden in Museen und Galerien ausgestellt. Im Namen der Religion haben Maler zum Beispiel ihre Portraits von Witwen unserer Märtyrer derartig vervollkommnet, daß dabei der Begriff des Märtyrertums und des Märtyrers völlig verlorengegangen ist. Das gleiche geschah in der frühen Renaissance in Europa mit den Marienbildern. Griechische und römische Mythologien wurden in der Gestalt Marias wiedergeboren; die Muttergöttin wurde wieder angebetet in ihrer Verkleidung als Maria; Göttinnen wie Venus, Hera, Aphrodite und so weiter waren wiederauferstanden.

In diesem Prozeß befinden wir uns zur Zeit auch. Unter der Maske des erfan (religiösen Mystizismus) bewegt sich unsere Dichtung und unser Kino in Richtung Pazifismus. Shi'a erfan jedoch enthält als wichtigen Bestandteil auch den jehad (heiligen Krieg), ein Begriff, der unsere Sprache beherrscht, unser Leben, die Künste und jeden Aspekt unserer Kultur. In den Arbeiten allzu vieler jedoch, die sich gläubige Moslems nennen, fehlt dieses Element. Unter der Maske des erfan aber verstecken sie nur ihre Obsession mit dem Westen.

Religiöser Intellektualismus ist noch gefährlicher als nur das Verliebtsein in den Westen. Diese Form des Intellektualismus versucht den Einfluß des Westens in seiner Behandlung religiöser Themen zu rechtfertigen und gebraucht dabei religiöse Bilder und Terminologie in Dichtung und Erzählung.

Unsere wirkliche Renaissance jedoch ist die Bekundung unserer eigenen Wahrheit und nicht etwa Verwestlichung. Unser Intellektueller ist krank, er ist geschlagen mit dem Übel des Westens. Sein Tanz ist der Totentanz des Westens. Intellektuelle des Ostens sind in allen ihren Erscheinungsweisen die kulturellen Agenten des Westens; etwas eigenes haben sie ihrem Volk nicht zu bieten. (...)

Selbst ein Farmer in Texas würde unseren Glauben besser begreifen als Teile unserer Regierung

Ein großer Teil unserer Regierung unterstützt die Intellektuellen. Sie glauben, daß die religiöse Führung nicht dem Klerus allein gehören soll, sondern allen gegeben werden, die Soziologie, Wissenschaftsphilosophie, Physik und Chemie studieren. Sie meinen, der Radius der Religion solle erweitert werden und ihre sekundären Glaubenssätze verändert; dabei verstehen sie nicht einmal ihre prinzipiellen Leitsätze. Sie beten Richtung Mekka, aber sie sind keine Moslems, sie sind proamerikanisch. Selbst ein Farmer aus Texas würde unseren Glauben besser begreifen als sie. Denn er hat Probleme, für die Christentum und Islam gleichermaßen Lösungen anbieten. Das Problem dieser Leute aber ist, wie sie den industriellen Export unseres Landes sichern können. Sie wollen, daß die Religion auch die Technik miteinschließt. Sie wollen die Sharia (Gesetze) unseres Propheten Mohammed strecken, um ihre eigene Haut zu retten. Sie sitzen einer Illusion auf. Sie haben den Westen gegessen und erbrechen den Westen. Aber der Westen wird nicht sein eigenes Erbrochenes essen. Der Westen hat Hunger auf eine Wahrheit, die seiner eigenen überlegen ist.

Wir leben im Zeitalter des Ostens, besonders des Islam und vor allem des schiitischen Islam, der Essenz und Höhepunkt des Islam ist. Ich habe keine Angst vor den Problemen des Alltags, denn das sind Probleme, die vergehen. Dennoch muß unsere Regierung, wenn sie wahrhaft islamisch sein will, so bald wie möglich das Versprechen sozialer Gerechtigkeit einlösen. Die Regierung wird sagen, daß der Krieg, das Erdbeben und die Überflutungen sie daran gehindert haben, dieses Ziel zu erreichen, aber sie muß es dennoch erreichen: Stabilität und Kontinuität einer Regierung zeigt sich nicht in Qualität und Kosten der diversen Festivals, die sie organisiert, sondern im Gebrauch dieses Geldes statt dessen für die Hebung des Lebensstandards, der Gesundheitsvorsorge, Bildung und Ausbildung des Volkes.

Unser Prophet konnte weder lesen noch schreiben. Um der Wahrheit (Gott) näher zu kommen, brauchen wir nicht lesen und schreiben zu können. Unsererfan lehrt uns, unsere Herzen zu weißen, nicht aber, Papier zu schwärzen. (...) Unser Intellektueller glaubt, daß unser Volk die Pressefreiheit braucht und sogar die Freiheit der Frau, sich nicht bedecken zu müssen. Selbst mit dieser Rede an den Westen, mit der Öffnung eines Dialogs, gehe ich vom Weg meiner eigenen Wahrheit ab. In unseren Augen ist der Westen den Dialog nicht wert, bevor er nicht seinen Weg verlassen hat und die gesamte Menschheit anerkennt, bevor er nicht das Licht gesehen hat statt immer nur seine eigenen Errungenschaften. (...)

Es ist die innere Wahrheit der Frauen, die überall dominiert. Frauen regieren heute schon in der ganzen Welt.

Manche glauben, daß die nächste weltumspannende Revolution die der Frauen sein wird. Sie stehen unter der Illusion, daß die Frau dem Manne überlegen ist und deshalb über ihn herrschen sollte. Frauen jedoch regieren heute schon, in der ganzen Welt. Es ist die innere Wahrheit der Frauen, die überall dominiert. Wir haben nichts, was wir die Wahrheit des Mannes nennen könnten. Deshalb auch sehnt sich jeder nach der Ankunft eines wirklichen Mannes — die Juden nach dem Messias, die Moslems nach dem Imam und die Christen nach der Wiederauferstehung von Jesus. Warum wartet keiner auf die Ankunft einer Frau? Eben weil wir alle weiblich sind, wir alle sind unterworfen, und keiner ist frei von seinen Leidenschaften. (...)

Die Intellektuellen des Ostens möchten Religion und velayat — Herrschaft der Religion — mit Demokratie und Monarchie versöhnen. Velayat aber anerkennt nicht das menschliche Gesetz, sondern strebt nach der Herrschaft einer höheren Autorität, einer Wahrheit, die der Westen dringlich braucht. Es hat im Westen seit der Renaissance keine Demokratie gegeben. Heute herrscht das Kapital. Velayat jedoch regiert im Interesse aller. (...)

Der Westen bietet seine Demokratie nicht an, damit wir Demokraten werden, sondern um uns zu Sklaven zu machen: damit wir mit eigenen Händen unsere Schätze für sie plündern und dorthin bringen, wohin es den Herren gefällt. Wenn der Westen die Intellektuellen des Ostens unterstützt, so tut er das, weil er ihre Rolle als Mittelsmänner kennt und weiß, daß sie in ihren Ländern den Boden bereiten für eine Unterwerfung durch den Westen. (...)

Die Freiheit, die der Presse jetzt eingeräumt wird, ist eine politische Freiheit. Die Intellektuellen beklagen weiterhin Zensur und Mangel an Demokratie. Aber auf jede Gruppe islamischer Denker kommen zehn Intellektuellenvereine; auf jede islamische Zeitschrift kommen fünf nichtislamische oder gar antiislamische Zeitschriften. Wir aber sorgen uns nicht, denn sie gießen einen verdorrten Baum.