Knabenanmut, Knabenschwermut

Nürnberg: „Brittens Tod in Venedig“ in der Inszenierung John Dews  ■ Von Irene Tüngler

Daß ein Kultstück sublimer Homosexualität zu erwarten gewesen war, bestätigte die Zusammensetzung des lustwandelnden Publikums schon vor Beginn der Premiere.

Thomas Mann und Benjamin Britten sind längst geoutet. Die andere Hälfte der Nürnberger Opernbesucher stellten die guten Bürger der Stadt, Premierenstammpublikum. Es wird seit Amtsantritt des Intendanten Lew Bogdan zu Beginn dieser Spielzeit nach langen Jahren sehr deutscher Traditionspflege in der Meistersingerstadt hin und wieder mit Ungewöhnlichem traktiert: Mit Benjamin Brittens Tod in Venedig zum Beispiel.

Brittens letzte Oper hat die Nähe zu Thomas Manns berühmter Erzählung zum erklärten Ziel. Aber trotz aufwendig breiter literarischer Grundlage: Das Musikwerk verherrlicht den flüchtigen Moment, die kurze Spanne der Jünglingsschönheit.

Die Dramaturgie belegt dieses Grundmotiv: In reflektierende Monologe sind in rascher, manchmal atemloser Folge kurze Episoden eingesprengt, die Stationen der dekadenten Reise des Gustav von Aschenbach in den Tod: an Cholera, Schönheit und allzu lange verdrängtem Begehren.

Der Bühnenbildner Heinz Balthes hat die absichtsvolle improvisatorische Unaufwendigkeit des Stückes mit modischem schwarzem Lackglanz umgeben: Boden und Decke der klinisch reinen, leeren Bühne bilden ein sich nach hinten perspektivisch auf einen Punkt hin verengendes Dreieck (Signal: Unentrinnbarkeit!).

Die schwarzen Seitenwände heben und senken sich vor Diaprojektionen mit den weich verschwimmenden Bildern des Meeres, einer fauligen venezianischen Häuserfassade, fiedriger Palmenkübel vor einer Hotelzimmerjalousie — und immer wieder ein nackter Jüngling auf der Grenzlinie zwischen Kind und Mann: Tadzio. Die Situationen, das heißt Stationen der Erzählung sind damit auf das knappste angedeutet: Der reiselustweckende Spaziergang des schaffenskriselnden Dichters in München, ein Mann mit Ruder auf der spiegelglatten Bodenfläche ist schon der Gondoliere in Venedig, die vor verschiedenen Dias defilierende polnische Familie mit den spröden Töchtern und dem wunderschönen Sohn Tadzio gibt die Gassen der Lagunenstadt; der im ganzen Stück gegenwärtige Liegestuhl und ein Handtuch reichen für den finalen Friseurladen. Die tanzenden Burschen um Tadzio und der Junge selbst sind der träumerisch stimmende Strand.

Viel spröder und gleichzeitig diffiziler als in früheren Opern Brittens ist die musikalische Faktur. Die motivische Arbeit basiert auf einigen charakteristischen Intervallen, die Farben sind karger geworden. Illustratives, wie es zum Beispiel im Sommernachtstraum die Handlung im Orchestergraben nachvollzieht, ist hier nur angedeutet: Kirchenchor und Blechbläserchoral, wenn die Stadt Venedig ins Spiel kommt, die eingängige Melodie der Erdbeerverkäuferin — für das Volk. Wolfgang Gayler musizierte bedachtsam und durchsichtig mit dem Philharmonischen Orchester der Stadt, ein wenig blutarm allenfalls.

Günter Neubert, von José-Manuel Vazquez mit der Dirk-Bogarde- Maske aus Viscontis berühmten Tod- in-Venedig-Film kostümiert, sang die für Brittens Lebensgefährten Peter Pears komponierte Partie des Gustav von Aschenbach in überzeugender Manier. Die langen monologischen Partien klavierbegleitender Rezitative in Spannung zu halten, gelang überzeugend. Ihm gehörte jedoch die Sympathie des Regisseurs John Dew sichtlich nicht, auch nicht Fabio Giongo in der wechselnden Gestalt des Todes: zur Reise auffordernd in München, alter Geck auf dem Schiff, Gondoliere, Coiffeur.

Allzu betont steif hatte Neubert den zum 50. Geburtstag geadelten deutschen Dichter von Geschmack und Distinktion zu geben; kaum wurde jenes Gefühl begreiflich, das ihn in Venedig „zu anderthalb Seiten erlesener Prosa“ beflügelte.

Mehr inszenatorischer und choreographischer Beachtung konnte sich der junge Schauspieler Mathias Hermann (dem breiten Fernsehzuschauer möglicherweise aus Diese Drombuschs und Woody bekannt) erfreuen, der die stumme Rolle des schönen Tadzio verkörperte. Verkörpert im direktesten Sinne, denn er hatte Knabenanmut und Knabenschwermut zu zeigen: in Traumbildern und am Schluß im Bühnennebel und vor modischen roten Neonleuchtstäben nackt und bekränzt wie der hellenische Apoll. Apotheose nach Ästhetikrausch.

Benjamin Britten/Myfanwy Piper (Libretto): Tod in Venedig . Musikalische Leitung: Wolfgang Gayber, Regie: John Dew. Städtische Bühnen Nürnberg. Wieder am: 5., 17., 19., 22., 18. Mai 1992