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„Aus nationalistischer Scheinwelt in die Wagenburg“

■ Ronald Mönch, Bremer Hochschul-Rektor und Kurdistan-Experte, zum türkischen Nationalismus in der Emigration

Karl Grabbe, seines Zeichens Honorarkonsul der Türkei in Bremen, holt weit aus: Zielrichtung der Demonstration „Für deutsch- türkische Freundschaft“ vom 16.5. und die Zusammensetzung dieser Demonstranten („ganz breites Spektrum“, Grabbe, — so weit, daß es auch die Schläger- und Mörderorganisation „Graue Wölfe“ umfassen konnte) bleiben dennoch im Dunkeln. Dafür verdeutlicht Grabbe jedenfalls die Motivation und Position dieser buntscheckigen Truppe. Implizit wird klar, daß es einmal mehr um die kurdische Frage geht. Und hierzu verrät seine Stellungnahme so Vieles, daß Kurden, Türken und Deutsche nachdenklich werden sollten.

1. Zwischen 1938 und 1984 hat die offizielle und offiziöse Türkei die Existenz der Kurden in der Türkei tabuisiert. Nichttürken in der Türkei sollten „Sklaven“ sein (so der türkische Innenminister) oder „Bergtürken“ (so die spätere Version). Tabuisierung und Zwangsassimilation entsprachen einander: Das nichtexistente Volk der Kurden wurde in Zwangsinternaten „turkisiert“. Eine Scheinwelt entstand: Als hätten Sprachverbot und Zwang aus dem Rest des Vielvölkerimperiums Osmanisches Reich einen rein türkischen Nationalstaat entstehen lassen. (Türkischer) Nationalismus war ein Grundpfeiler der atatürkischen Einheitsgesellschaft geworden.

2. Und den „Freunden der Türkei“ war es recht. Veränderungen an etablierten Staaten waren im Kalten Krieg generell tabu. Gründlich hatte der türkische Staatsapparat mit der kurdischen Intelligenz abgerechnet; die gesellschaftlich-ethische Bewältigung der Staatsmorde und Staatsfolter steht noch aus. Und weite Teile der alten feudalen Führungsschicht hatte die Türkei in den Staatsapparat integriert - nicht als Kurden, sondern als Türken. Beide Politiken erklären einen Großteil der Massenakzeptanz der kurdischen Arbeiterpartei PKK, heute der einzigen Ausprägung der kurdischen Nationalbewegung in der Türkei von quantitativer Bedeutung.

3. Dieses atatürkische Weltbild haben die türkischen Arbeitsmigranten in die Bundesrepublik transportiert; und kurdische Arbeitsmigranten der ersten Jahre brachten ihre Erfahrung der Nichtexistenz und Entrechtung mit. Eine bunte politische Mischung von Freunden der Türkei in der Bundesrepublik akzeptierte dieses Weltbild: Türkei=Türken; warum sollte es in der Türkei anders sein als in der ethnisch homogenen Bundesrepublik? Die nationale Homogenität der Türkei war zwar ein Trugbild, aber ein angenehmes, denn mindestens das hatten Deutschland und die Türkei gemeinsam. Es war für Türken in der Fremde nützlich, denn das Gefühl, in der einheitlichen Türkei aufgehoben zu sein, erleichterte das Leben in der Fremde. Und deutsche Freunde von rechtsaußen bis linksaußen konnten sich damit identifizieren.

„Das kurdische Tabu ist gefallen,

die Zwangsassimilation bleibt“

4. Auch konnte sich wohl kaum ein Deutscher vorstellen, wie ungeheuerlich die in der türkischen Politik steckende Nationalitätenlüge war. Bezeichnenderweise gebraucht Grabbe häufig die Wendung von der „multikulturellen“ Gesellschaft der Türkei. Eine Groteske, wenn man an das alte Sprachverbotsgesetz denkt, an die Schul- und Bildungssprache Zwangs-Türkisch, an die Mediensprache Türkisch und alles andere, was nun exakt das Gegenteil von Multikulturalität ausmacht. Seit Orwell wissen wir aber, daß moderne Kriege gerade semantisch und terminologisch geführt werden...

5. Beginnend mit der zaghaften Liberalisierung vor etwa 7-8 Jahren, und ersichtlich unter dem Eindruck der immer erfolgreicheren PKK-Politik hat die atatürkische Gesellschaft in der Türkei erstmals eine Chance, zu einem neuen ehrlichen Weltbild zu kommen. Dieser Prozeß, den Deutsche distanziert und verspätet erleben, ist voller Widersprüche, für die liberalen türkischen Publizisten oft existenziell bedrohlich, für Kurden oft tödlich gefährlich. Dennoch: Das kurdische Tabu ist gefallen, die Zwangsassimilationspolitik ist geblieben.

Die Situation ist labil, fragil, aber auch chancenreich. Ein Beispiel: Als ein renommierter türkischer Journalist, Mehmed Ali Birand, vor einem halben Jahr den legendären PKK-Führer Abdullah Öcalan („Apo“) im Bekaa-Tal zu einem Interview aufsuchte, ging noch ein Sturm der Entrüstung durch die gelenkte Fernsehwelt der Türkei; das Interview ist vor wenigen Wochen im Staatsfernsehen gesendet worden. Wäre dies der Anfang eines neuen türkisch-kurdischen Dialogs?

6. Da setzt das Elend der Migranten ein. Diese raschen Veränderungen in der Türkei entsprechen nicht mehr ihrem Weltbild. Es fällt schwer, in der Fremde nachzuvollziehen, was sich in der Türkei ereignet: Eine durch den türkischen Staatsterror in Türkisch- Kurdistan immer stärker forcierte Westmigration von kurdischen Hungerleidern, die Proletarisierung einst wunderschöner Städte wie Istanbul (heute die größte kurdische Stadt mit wohl über zwei Millionen Kurden), das Besatzungsregime der Armee und paramilitärischer Organisationen im „Osten“, in Kurdistan, die täglichen Toten auf beiden Seiten, die Massaker der türkischen Armee in Diyarbakir im August 1991 und im März 1992 usw. Aber auch: die Zulassung der kurdischen Sprache als Alltagssprache (ein erster Beginn), die zunehmende Thematisierung der kurdischen Frage, die in Wahrheit eine Grundfrage der türkischen Politik geworden ist.

Da bietet die Wagenburg einen Ausweg, und ihn scheinen Grabbe und zahlreiche Exiltürken gemeinsam zu wählen. Sie wähnen sich offenbar von vielen Feinden umgeben: dem Bürgermeister, der Regierung ganz allgemein, dem Rundfunkrat, der Stadthalle, der GEW, dem DAB, den Hochschulen usw. Zwar kann ich die Geschütze, die Grabbe auslotet, so nicht erkennen, aber eine Wagenburg bezieht man gerne auch dann, wenn die Gefahr nur eine scheinbare ist - oder sollte sie sogar eine vorgetäuschte sein? Wenn alleine das Thema eines Internationalen Kongresses an der Hoschule Bremen unter Schirmherrschaft des Bürgermeisters (4.6.91) „Die Situation der Kurden nach dem Golfkrieg“ in die Wagenburg treibt, ohne an dem Kongreß teilzunehmen (eingeladen war Herr Grabbe), dann ist sogar die letzte Frage erlaubt. Und dann wird es gefährlich: Aus den Western haben wir gelernt, daß der Rückzug in die Wagenburg in aller Regel eine Vorstufe zu gewalttätigen Szenarien ist.

7. Was können wir tun, damit auch türkische Migranten die Erosion des atatürkischen Weltbildes, der atatürkischen Scheinwelt nicht als Gefahr für ihre Identität, sondern als eine Chance begreifen, vielleicht die einzige, die die Türkei hat? Die Welt der deutschen politischen Kultur muß ihre eigene Bereitschaft zu offenen Diskussion der kurdischen Frage steigern. Unter den Teppich kann man die existentiellen Probleme von 25-30 Millioenen Menschen im Nahen Osten ohnehin nicht mehr kehren. Grabbe prangert demokratisch Selbstverständliches an:

Daß potentielle Repräsentanten ausländischer Mitbürger zur Kurdenfrage befragt werden, ist mehr als legitim.

Daß die GEW nicht kritiklos jeden Sendboten der türkischen Regierung hinnimmt, wen sollte das wundern wenn man die Realität nationalistischer Schulen der Türkei vor Augen hat.

Daß der Bremer Bürgermeister auf einem Hochschulkongreß eine richtungsweisende Rede hält: Wir sollten stolz über das Niveau der Diskussion sein. Es lag deutlich höher als kürzlich im Bundestag, wo insbesondere Herr Klose offenbar die falschen geistigen Berater hatte.

Grabbe und die Seinen haben diesen lange fälligen Umschwung in Deutschland bemerkt. Jedoch nicht als Chance, sondern als Drohung, die Wagenburgmentatlität auslöst. Entwaffnend seine Äußerung auf die Einladung eines Kurden während der Diskussionsveranstaltung der Grünen am 24.4., er, Grabbe, möge sich doch einmal die Situation in Kurdistan selbst anschauen: „Da kann ich nicht hin, da ist ja Krieg.“

Das alles ist die Türkei von gestern, und deutsche „Freunde der Türkei“ sollten den schwierigen Weg der Türkei nicht durch diese Rekurse gefährden. Daß sich Grabbe und seine Freunde in die Wagenburg begeben haben, ist ihr gutes Recht; auch an so manchemn Diplomaten ist die Geschichte vorbeigezogen. Aber er beruft sich fortwährend auf einen Konsens unter „den“ Türken. Wäre dem so, so wäre die Situation allerdings gefährlich. Denn vor jeder erfolgreichen Therapie steht die ehrliche Diagnose. Und wenn tatsächlich „die“, also alle Türken die ethnische Wahrheit über die Türkei scheuen, so würde der Graben zwischen Türken, Kurden und Deutschen breiter und tiefer.

Gottseidank bleibt Grabbe uns den Beweis für diesen Konsens schuldig. Und wir sollten hoffen, daß auch möglichst viele trotz der Schwierigkeiten des Exils die Chance begreifen, die in einer grundlegenden Neuorientierung der türkischen Politik liegen könnte. Daß diese Neuorientierung heute, wenige Wochen nach dem Massaker von 21.3. weit entfernt ist, sollte uns nicht entmutigen. Es gibt keine ernsthafte Alternative zur Abkehr von der atatürkischen Gesellschaft und ihrer für die Türkei verhängnisvollen Tabuisierungs- und Zwangsassimilationspolitik.

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