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KOMMENTAREZwei Paradoxe

■ Die Tschechoslowakei — so zeigen die Wahlergebnisse — droht auseinanderzufallen

Vaclav Havel sah wie immer zuerst das Positive: zu polnischen Verhältnissen — einer Vielzahl parlamentarischer Parteien — sei es nicht gekommen. In der Tat. Bei den tschechoslowakischen Parlamentswahlen gab es nur zwei Wahlsieger. In der Tschechischen Republik gewannen die Verfechter einer schnellen und rücksichtslosen Einführung der Marktwirtschaft, in der Slowakei waren die Gegner der „Schocktherapie“ erfolgreich. In der Slowakei stimmten all diejenigen für Meciar, die sich von ihm erhoffen, daß er die Interessen des wirtschaftlich darniederliegenden Landesteiles gegenüber den „Prager Zentristen“ verteidigt. Die Tschechen wiederum votierten für Klaus, um eine „Bedrohung der Wirtschaftsreformen“ durch Meciar zu verhindern. Doch an dieser Stelle zeigt sich auch die paradoxe Konsequenz der Polarisierung. Da die CSFR eine Föderation ist, kann die Bundesregierung nicht allein von tschechischen oder slowakischen Parteien gebildet werden. Um eine stabile Mehrheit in der Föderalversammlung zu haben, müssen die politischen Gegner nun eine gemeinsame Sprache finden.

Die Aussichten für eine „große Rechts-Links- Koalition“ sind alles andere als gut. Dennoch kamen aus der Slowakei in den letzten Tagen vor den Wahlen Signale der Kompromißbereitschaft. Denn selbst Meciar scheint inzwischen klargeworden zu sein, daß die Voraussetzung für eine selbständige Slowakei in der Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Teilrepublik liegt. Andererseits könnte auch die tschechische Seite nun begreifen, daß Meciars Forderung nach einer Korrektur der Wirtschaftsreformen nicht gleichzeitig ihr Ende bedeuten.

Die ersten Reaktionen nach den Wahlen geben diesen Hoffnungen jedoch wenig Auftrieb. Da für das politische Gleichgewicht in der CSFR immer die Verteilung der wichtigsten staatlichen Funktionen entscheidend ist, wird auch das Amt des Staatspräsidenten in diesen Tauschhandel miteinbezogen werden. Nachdem Vaclav Havel in den letzten Wochen wiederholt vor der Politik Meciars warnte, ist dieser alles andere als gut auf den Präsidenten zu sprechen, bezeichnete er die Chancen für seine in wenigen Wochen anstehende Wiederwahl als „minimal“.

Klaus, dessen Beziehung zu dem ehemaligen Dissidenten immer kühl blieb, hat die Wahl Havels nicht ausdrücklich zur Bedingung für eine Koalition gemacht. Und so kündigt sich bereits heute ein weiteres Paradox der politischen Situation des Landes an: Um ein Auseinanderbrechen der CSFR zu verhindern, würde ein Mann geopfert, der seit zwei Jahren intensiver als alle anderen gegen dieses Auseinanderbrechen angekämpft hat. Sabine Herre, Prag

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