: Dichter des russischen Aufruhrs
Fritz Mieraus faszinierende Biographie des Dichters Sergej Jessenin — Bauernpoet und Dandy, Ehemann der Isidora Duncan und Exilant vor Stalin ■ Von Michael Braun
Unter den Erneuerern der modernen russischen Dichtung ist Sergej Jessenin (1895-1925), der Abkömmling einer Bauernfamilie aus Mittelrußland, die widersprüchlichste Figur. Als naiv-sentimentalischer Bauerndichter und Sänger des agrarischen Daseins hatte er 1915 die literarische Welt Petrograds im Sturm erobert. Zehn Jahre später, nach einer ebenso rasanten wie turbulenten Dichterkarriere, taumelte er als physisch und psychisch ruinierter Literatur- Dandy in die Selbstzerstörung.
Jessenins Freitod am 28.Dezember 1925 ist die traurige Endstation einer langen Kette von spektakulären literarischen Metamorphosen und Frontenwechseln, in deren Verlauf der Bauerndichter aus Konstantinowo vom Liebling der Petrograder Salons zum bestgehaßten „Kulakendichter“ degradiert wurde. Als revolutionäre poetische Stimme des russischen Bauern nach 1917 zunächst gefeiert, fiel der mit den linken Sozialrevolutionären sympathisierende Jessenin rasch in Ungnade, als Stalin seinen rabiaten Kurs der Industrialisierung gegen Trotzki durchsetzte. Schon zuvor hatte sich Jessenin enttäuscht von der Revolution abgewandt und sich kulturpolitisch als erbitterter Gegner des vulgären „Proletkults“ und des bolschewistisch instrumentalisierten Futurismus exponiert. Nach der terroristischen Zerschlagung des Kronstadter Matrosenaufstands im März 1921 brachen die hochfliegenden Hoffnungen der russischen Dichter auf eine geistige Erneuerung ihres Landes durch die Revolution endgültig zuammen. „Die Laus hat die ganze Welt besiegt“, schrieb der gründlich desillusionierte Symbolist Alexander Blok in seinem letzten Aufsatz, „und der Dichter stirbt, weil er nicht mehr atmen kann; das Leben hat seinen Sinn verloren.“ Wenige Monate später, im August 1921, stirbt Blok im Zustand geistiger und seelischer Erschöpfung; kurz darauf wird Nikolai Gumiljow, ein literarischer Weggefährte Ossip Mandelstams, wegen angeblich monarchistischer Umtriebe erschossen. Ein Exodus der russischen Intelligenz setzt ein; binnen weniger Monate wird Berlin zur Exil-Hauptstadt der russischen Avantgarde. Die Misere der Revolution, die Blok in den Tod trieb, Andrej Bely, Alexej Remisow und viele andere in die Emigration — sie treibt Jessenin zu ausgedehnten Reisen nach Asien. Nach seiner Rückkehr fordert er zu einer allgemeinen Mobilmachung auf: „Grund der Mobilmachung: der Krieg, der der aktiven Kunst erklärt worden ist.“
Mit solchen Aktionen zog sich Jessenin immer häufiger den Unwillen der bolschewistischen Kulturpolitiker zu. Auch mit seinen blitzartigen literarischen Positionswechseln sorgte der Bauerndichter, der sich plötzlich in einen Großstadtpoeten verwandelt hatte, für Verwirrung. Spontan gründete Jessenin poetische Schulen, schloß literarische Bündnisse und verkündete poetische Programme, um sie wenige Monate später ebenso rasch wieder zu verwerfen. Auf seinem Weg von den einfachen Bauerndichtern zu den Symbolisten und den „Skythen“-Dichtern bis hin zu den „Imaginisten“ schuf er sich mehr Feinde als Freunde. Differenziertester Jessenin-Kritiker ist dabei Leo Trotzki, der sich zwar über den „Possenreißer der Revolution“ mokierte, gleichwohl sich dafür aussprach, Jessenin als „Weggefährten“ der Revolution zu akzeptieren. Wladimir Majakowski dagegen verspottete Jessenin als „Balalaikamusikanten“, der „Bastschuhkunst fürs Dörflein“ produziere. Als „verkommenen Kokainisten“ denunzierten ihn schließlich die „Proletkult“-Autoren, die mehrfach seine Entfernung aus der sowjetischen Literatur forderten. Vorausgegangen war Jessenins gescheiterter Versuch, das Image des Bauernpoeten abzustreifen und sich durch maßlose Trunksucht und ein exhibitionistisches Luxusleben als exzentrischer Dandy zu profilieren. Nach zwei gescheiterten Ehen hatte er 1922 die berühmte Tänzerin Isidora Duncan geheiratet und war mit ihr während einer Europa- und Amerika-Reise mehr durch provokative Exzesse als durch künstlerische Aktivität aufgefallen. Nach Rußland zurückgekehrt, wurde „der Skandalpoet“ (Jessenin über Jessenin) rasch wieder von der „schwarzen Braut Schwermut“ eingeholt, die ihn seit seinen poetischen Anfängen verfolgte. Die Abschiedsgedichte, die in seinem letzten Lebensjahr entstanden, sind durchzogen von einer heillosen Todessehnsucht: „Es gibt ein gutes Lied, ein Lied der Nachtigallen —/ ein Lied auf meinen Kopf, der jäh dem Tod verfallen./ Er blühte, er wucherte, er wuchs, der messerhelle,/ nun hängt er seinen Schopf und kann nicht von der Stelle... Und wie bin ich verblüht. Durch Ruhm? Bei Suff und Prassen?/ Man mochte mich doch einst — nun hat man mich verlassen.“
Der Slawist Fritz Mierau hat in seiner ungeheuer spannenden und materialreichen Biographie den poetischen Höhenflug und deprimierenden Absturz des Dichters Sergej Jessenin rekonstruiert. Jahrzehntelang war das Jessenin-Bild durch sowjetische Literaturhistoriker bis zur Unkenntlichkeit verdunkelt worden. Seit den „bissigen Bemerkungen“ Nikolai Bucharins, die im Januar 1927 in der 'Prawda‘ zu lesen waren, machte das böse Wort von der „Jesseninschtschina“ die Runde, der „allergefährlichsten Erscheinung“ in der Literatur, der Einhalt geboten werden müsse. Erst nach Stalins Tod wurde Jessenin allmählich wieder in die russische Literaturgeschichte eingebürgert. Daß im deutschsprachigen Raum „der Dichter des russischen Aufruhrs“ (Mierau) kein völlig Unbekannter mehr ist, verdanken wir Paul Celans kongenialen Gedicht-Übertragungen, von denen erste Proben in Enzensbergers Museum der modernen Poesie zu lesen waren.
Was Mierau nun nach jahrzehntelangen Recherchen in Moskauer Archiven und Bibliotheken an Dokumenten zusammengetragen hat, ergibt mehr als nur die Beschreibung eines Dichterlebens. Sine Biographie wächst sich aus zum Porträt einer Epoche, in dem Jessenins Schicksal zum Sinnbild wird für die Tragödie der russischen Poesie im Sowjetmarxismus. Das von Maxim Gorki überlieferte Jessenin-Bild vom „wunderbaren russischen Dichter aus Rjasan“, der an der Stadt zugrundegeht, ist nur eine Teilwahrheit, die den Schuldanteil der Bolschewiki ausblendet. Zutreffend ist jedoch Gorkis Hinweis auf Jessenins elementare Naturverbundenheit. Tatsächlich beschwören sowohl die Briefe als auch die meisten Gedichte von Jessenin das russische Dorf als einen (freilich ambivalenten) Sehnsuchtsort. Immer wieder nimmt Jessenin Abschied von seinem geliebten Konstantinowo und evoziert den Schmerz über seine Entwurzelung. In dem bereits 1915 entstandenen Gedicht In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern ist der Lebensweg des Dichters prophetisch skizziert: „In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern,/ Buchweizen ruft, aus Weiten, endlos großen./ Ich laß die Kate Kate sein, bin fern,/ ich streun, ein Dieb, umher im Heimatlosen/ ...Ich weiß, mich führts zurück zu Vaters Haus —/ Mein ganzer Trost: daß fremde Herzen hüpfen.../ Ein grüner Abend kommt, ich zieh die Jacke aus,/ am Ärmel mich ans Fensterkreuz zu knüpfen.“
Fritz Mierau: Sergej Jessenin. Eine Biographie. Reclam Verlag, Leipzig 1992, 560Seiten, 24DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen