: Scherings Geographie der Ethik
„Fertilitätskontrolle“: Dem Pharma-Konzern dient die unterschiedliche Nutzen-Risiko-Bewertung der Verhütungsmittel in der Ersten und Dritten Welt eher der Ökonomie denn der Ethik/ Doppelte Standards werden als kulturelle Differenzen propagiert ■ Von Ute Sprenger
Wo bis vor einigen Jahren noch zwei Menschen verschiedenen Geschlechts genügten, mischen heute ungezählte Fachleute, die Industrie und ziemlich viel Geld mit. Von der menschlichen Sexualität ist die Rede, genauer von der menschlichen Fortpflanzung. Noch genauer: Von der Verhinderung der menschlichen Fortpflanzung. Ganz vorn in diesem Geschäft ist ein bundesdeutsches Unternehmen: die ScheringAG mit Hauptsitz in Berlin-Wedding.
Der Pharmakonzern pflegt nach innen die „Corporate Identity“ und nach außen ein ethisches Image. Er verkauft sich als der Konzern in der Nachbarschaft, der auch im Stadtteil gern mal Gelder für die Ausländerberatung bereitstellt — im Rahmen der Antirassismusarbeit versteht sich. Wenn es um das Pharmageschäft „Fertilitätskontrolle“ geht, gibt sich Schering mal progressiv frauenfreundlich, mal global denkend: „Durch die Familienplanung haben Frauen in aller Welt mehr Selbstbestimmung gewonnen im Vergleich zu der Situation, als keine zuverlässigen Verhütungsmittel verfügbar waren.“ Der Verkauf von Hormonen soll als Beitrag zur Emanzipation verstanden werden.
Pillenproduktion gegen Bevölkerungswachstum
Alternativ steht das Geschäft mit Verhütungsmitteln in der Dritten Welt für die Zukunft „unserer Erde“. Diese sei bedroht, erklärte kürzlich Vorstandsmitglied Günter Stock seinen AktionärInnen, vom „wahrscheinlich größten Problem, das uns derzeit beschäftigt: dem Bevölkerungswachstum.“ Darum schickt der Konzern etwa 60 Prozent seiner Pillenpackungen in Dritte- Welt-Länder — natürlich zum Sonderpreis. Die Folge: Von den rund 70 Millionen Frauen, die weltweit täglich ihren Ovulationshemmer schlucken, greift jede vierte nach einem Hormonpräparat aus dem Hause Schering. Neben vielen Pillensorten verkauft Schering auch Spiralen, eine Dreimonatsspritze und hormongefüllte Silikonkapseln mit dem Handelsnamen Norplant, die, unter die Haut der Armbeuge gepflanzt, bis zu fünf Jahren eine Empfängnis verhüten sollen. Dieses Implantat vertreibt Schering in Ländern wie Thailand oder Indonesien.
Befaßt sich der ansonsten ethisch gebärdende Pharmakonzern damit, wie seine Präparate kurz-, mittel- und langfristig wirken und wie sie eingesetzt werden — und das überall? „Natürlich machen wir uns Gedanken, inwieweit man Präparate ethisch vertreten kann“, erklärt Schering-Pressesprecherin Monika Klutz-Specht, aber „Mißbrauch ist doch eigentlich immer möglich“. Und eine Überwachung des alltäglichen Gebrauchs, besonders in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas? „Machen wir doch hier in Deutschland auch nicht. Also ich glaube, da fordern Sie doch sehr viel von einem Unternehmen!“
Wirkung der Pille in Dritter Welt unerforscht
Seit Pharmakonzerne vor rund dreißig Jahren das Zeitalter der hormonellen Verhütung einläuteten, gibt es nicht nur alle Jahre wieder neue positive Verkaufsbilanzen für die Industrie und für einige Frauen eine entspanntere Sexualität. Mit den neuen Pillen und ihren Nachfolgeprodukten kamen auch neue Schwierigkeiten auf die Frauen zu, denn neben der erwünschten Wirkung, die Empfängnis zu verhüten, traten auch unerwünschte Wirkungen auf, von denen Gewichtszunahme, Hautveränderungen oder Kreislaufstörungen noch die geringsten waren. Von der erhöhten Gefahr von Thrombosen war zu hören, von Krebs und sogar von einigen Todesfällen. Die Pille kam ins Gerede. Schering und andere Unternehmen reagierten darauf mit einer Fülle von Studien. Zufrieden stellt Monika Klutz-Specht jetzt fest: „Nutzen und Risiken der Pille konnten aufgrund zahlreicher Studien immer besser auch von den Anwenderinnen bewertet werden.“ Heute wird in Westeuropa und den USA empfohlen, die Pille nur nach eingehender Untersuchung und Anamnese zu verschreiben, da es eine Reihe von Kontraindikationen gibt. Schering nennt die Pille „eines der bestuntersuchten Arzneimittel überhaupt“ — was für westliche Länder durchaus zutreffen mag.
Nach mehr als dreißig Jahren Erfahrung mit diesem Verhütungsmittel gibt es aber nach wir vor keine systematischen Untersuchungen über die besondere Wirkungsweise der Pille in den Ländern des Südens. Es ist bekannt, daß das schulmedizinische Gesundheitssystem dort nur etwa einem Drittel der Bevölkerung zur Verfügung steht. Die bei uns empfohlene sorgfältige Prüfung vor Verabreichung kann also nicht durchgeführt werden, die schon bekannten Kontraindikationen können somit kaum festgestellt werden. Hinzu kommt: Krankheiten, die hier nahezu unbekannt sind, wie etwa Malaria, Sichelzellanämie oder Schistosomiasis, sind in vielen Ländern des Südens endemisch. Wechselwirkungen zwischen konventionellen Verhütungsmitteln und diesen Erkrankungen oder einem veränderten Ernährungszustand bei Mangel- und Unterernährung werden in diesen Regionen nicht berücksichtigt. Da es aber keine systematischen Erkenntnisse darüber gibt, geschieht nichts davon.
Die anderen Verhütungsmittel von Schering wie Spritze und Implantat bringen zudem noch weitere Gefahren mit sich, wie das Beispiel Thailand zeigt: Gezielt wird Norplant, eine lang wirksame Methode, die weitgehend der Kontrolle der Frauen entzogen ist, von der thailändischen Regierung bei den Bergvölkern des tropischen Regenwaldes eingesetzt. Die Regierung hat ein Interesse daran, diese Völker, die einer kommerziellen Nutzung des Waldes im Wege stehen, zu dezimieren. Es ist damit ein ergänzender „ziviler“ Baustein einer militärischen Strategie.
„Nutzen-Risiko-Abwägungen können bei unterschiedlichen Rahmenbedingungen in einzelnen Ländern und Regionen zu ebenso unterschiedlichen Ergebnissen führen“, meint Schering-Pressesprecherin Klutz-Specht. Auch in Indonesien, wo Norplant heute am meisten verbreitet ist, offenbart sich die Perspektive des Konzerns bei diesen Abwägungen. Mit Ethik hat das wenig, mit Ökonomie allerdings eine ganze Menge zu tun. Mehr als 750.000 Frauen, rund vier Prozent der indonesischen Frauen, die moderne Kontrazeption betreiben, tragen die hormongefüllten Silikonkapseln in ihren Armbeugen. Diese recht hohe Rate der Akzeptanz ist auf eine kulturelle Besonderheit zurückzuführen: In Indonesien ist es Tradition, Gold- und Silberstückchen unter die Haut zu pflanzen. Damit werden nach dem volksmedizinischen Glauben den Trägerinnen übernatürliche Kräfte verliehen.
Zuverlässige Verhütung in aller Frauen Länder
Tradition also im Dienste Scherings, um damit die Absatzzahlen zu sichern. Im Sinne der betroffenen Frauen ist das sicher nicht. Insofern dient die unterschiedliche Nutzen- Risiko-Bewertung wohl eher den Geschäftsinteressen des Konzerns als der Sorge um eine zuverlässige und gesundheitsverträgliche Verhütungsmethode für Frauen in allen Ländern der Welt. Der Konzern propagiert ganz offen doppelte Standards und möchte sie als kulturelle Differenzen verstanden wissen.
Frauen in westlichen Ländern haben eher die Möglichkeit, Schering für den Schaden, der durch die Anwendung seiner Produkte entsteht, medienwirksam zur Rechenschaft zu ziehen als Frauen in den Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas. Ihnen fehlt dafür oftmals nicht nur die Information, sondern auch das Geld. Aus der Sicht des Konzerns sind daher Untersuchungen über die Auswirkungen seiner hormonellen Hemmer und besondere Sorgfalt für deren Anwendung in jenen Ländern nicht besonders interessant. Sicher ein Grund dafür, warum das Bemühen des Konzerns um ein ethisches Image im Süden „unserer Erde“ ein jähes Ende findet.
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