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Keine Schul-Glasnost

Im SPD-regierten Nordrhein-Westfalen dürfen die Schulleiter per „Vertriebsverbot“ immer noch als Oberzensoren herrschen  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier (SPD) sah sich zu einer Klarstellung veranlaßt: „Ich halte Kondome nicht für typische Presseerzeugnisse.“ Der Düsseldorfer Landtag stritt im Herbst 1991 wieder mal über den Paragraphen37 Abs.5 der Allgemeinen Schulordnung, den KritikerInnen gern „Gummi-Paragraph“ nennen. Der Spitzname steht für den weit auslegbaren Ermessensspielraum, den der Paragraph den SchulleiterInnen gibt: Immer dann dürfen sie die Verteilung einer SchülerInnenzeitung auf dem Schulgelände verbieten, wenn sie meinen, der Blattinhalt beeinträchtige den „Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule“. Schwier rechtfertigte die Entscheidung eines Gymnasiumleiters in Geldern. Der Pädagoge hatte die Zeitung Buschtrommel aus dem Verkehr gezogen, weil die BlattmacherInnen nicht nur mit Worten über Aids aufklären wollten — als Gratis-Zugabe war jeder Buschtrommel ein Kondom beigelegt.

Das Vertriebsverbot sei rechtens gewesen, gab das Kulturministerium anschließend dem Schulleiter Rückendeckung, um „zu verhindern, daß jüngere Schüler durch den arglosen Erwerb der Schrift in dieser Weise an das Thema herangeführt werden und dadurch das mit der Aids-Aufklärung verfolgte Ziel beeinträchtigt wird“.

Die Maßregelung der Buschtrommel per Vertriebsverbot ist die bekannteste, aber nicht die einzige. Kerstin Jäckel, „Rechts- und Anti- Zensur-Referentin“ der Arbeitsgemeinschaft Junge Presse in Nordrhein-Westfalen, hat Eingriffe dokumentiert, die NachwuchsredakteurInnen ihr gemeldet haben. In einer katholischen Privatschule in Essen durften SchülerInnen ihre Zeitung nicht verteilen, weil darin eine Reportage über den Straßenstrich zu lesen war. BlattmacherInnen aus Isselburg beklagten, ein Beratungslehrer markiere unliebsame Artikel mit Rotstift oder formuliere sie um. Falls seine Vorschläge nicht akzeptiert würden, drohe er mit Vertriebsverbot.

Derartige Eingriffe nennt Kerstin Jäckel „Vorzensur“. Klagen über „Nachzensur“ gab es dagegen aus einem münsterländischen Gymnasium. Dort hatte ein Stufenleiter einen ganzen Jahrgang unter Druck gesetzt. Alle sollten sich von einem Artikel distanzieren, in dem ein anonymer Autor massiv kritisiert hatte, daß ein Mitschüler wegen einer Fünf in Sport nicht versetzt worden sei. Obwohl die RedakteurInnen beteuerten, die Darstellung beruhe auf nachweisbaren Tatsachen, kam es unmittelbar vor einer LehrerInnenkonferenz zur geforderten Distanzierung.

Wegen solcher Vorfälle und, wie Kerstin Jäckel sagt, der daraus resultierenden „Schere im Kopf“ vieler SchülerzeitungsmacherInnen, fordern die Jugendpresseverbände überall in der Bundesrepublik seit Jahren die Abschaffung jeglicher Zensurregelungen. Teilweise mit Erfolg: Das SPD-regierte Schleswig-Holstein wagte als erstes Bundesland mehr Demokratie und schaffte Ende 1990 die Drohung mit dem Vertriebsverbot ab. Auch im Stadtstaat Hamburg gibt es seit dem 1.November 1991 keine Vertriebsverbotsregelungen mehr, Niedersachsen hat eine entsprechende Reform angekündigt.

Doch ob auch NRW nachziehen wird, ist fraglich. Zwar haben FDP und Grüne schon im vorigen Jahr Gesetzentwürfe in den Landtag eingebracht, wonach das Vertriebsverbot verboten werden soll. Geht es nach den kleinen Oppositionsparteien, sollen SchülerInnenblätter künftig wie professionelle Zeitungen behandelt werden, also nicht mehr dem Ermessen der Schule unterstehen, sondern dem Presserecht und den allgemeinen Gesetzen verpflichtet sein. Doch Kultusminister Schwier hält von solchen Reformen nicht viel. Wäre der „Gummiparagraph“ erst einmal abgeschafft, gab er sich im Landtag überaus fürsorglich, drohe kritischen BlattmacherInnen womöglich Schlimmeres: Bei allzu scharfer Berichterstattung, mutmaßte der Kultusminister, müßten die SchulleiterInnen dann Straf- oder ZivilrichterInnen einschalten.

Angesichts solcher Befürchtungen will Schwier grundsätzlich an der Verbotsoption festhalten. Immerhin dachte er sich was Neues aus und stellte am 1.April eine abgewandelte Verbotsvariante im Landtag vor. Bei Konflikten solle künftig nicht mehr der Schulleiter, sondern die Schulkonferenz über das Vertriebsverbot entscheiden.

In der Schulkonferenz dabei sind auch VertreterInnen der Eltern und SchülerInnen. Trotzdem, meint die Opposition, sei der Vorschlag des Kultusministers nicht praktikabel. Warum, das begründete die grüne Abgeordnete Brigitte Schumann im Landtag so: „Schülerzeitungen, die mit einer aufgeschlossenen, liberalen Elternschaft in der Schulkonferenz rechnen können, werden es leichter haben, unzensiert zu schreiben als die mit einer konservativen Elternschaft im Nacken.“

Also wird er weitergehen — der nun schon Jahre währende Streit über die Pressefreiheit auf den Schulhöfen. Nun soll der NRW-Landtagsausschuß für Schule und Weiterbildung Position beziehen — irgendwann nach den Sommerferien.

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