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DIE FREUDEN DER MITTERNACHTSSONNE

■ Die Entdeckung der Unterhaltsamkeit des Hohen Nordens. Eine geistige Erfrischung nach der atemberaubenden Hitze. Neuere und neueste Arctica besprochen

Die Entdeckung der Unterhaltsamkeit des Hohen Nordens. Eine geistige Erfrischung nach der atemberaubenden Hitze. Neuere und neueste Arctica besprochen

VONHANSA.KUBISCHTA

Bolette Petri-Sutermeister, eine, die in den Norden zog und die der Norden nicht mehr losgelassen hat, macht sie sich zusammen mit Kusine und Vetter im Dezember 1970 zu einer zwanzigstündigen Seefahrt auf mit dem Ziel Tromsö in Nordnorwegen, dem „hinterste(n) Loch irgendwo verloren in der Polareinöde“.

Das Nordlicht, und natürlich auch sein Pendant im Sommer, die Mitternachtssonne, sind es, die den Rahmen der Erzählungen von Bolette Petri-Sutermeister abgeben. Mit anderen Worten, das ganze arktische Jahr im Hohen Norden, das uns hier von geübter Seite und aus erster Hand vorgestellt wird. Bolette — folgen auch wir dem skandinavischen Brauch und bleiben einfach beim Vornamen — ist die sprachen- und sachkundige Leiterin des nördlichsten Museums der Welt. Sie versucht nicht, uns in die Geheimnisse ihres Hohen Nordens „einzuweihen“, sondern erzählt einfache Begebenheiten.

Dort oben in Skandinavien ist immer irgend etwas am nördlichsten. Nördlicher leben als auf Spitzbergen geht aber wirklich nicht mehr; es sei denn für ein paar Tage, Wochen oder Monate auf irgendeiner Expedition, aber das ist ja kein Leben. Obwohl auch unsere Autorin es vorzieht, den Winter lieber im „Süden“ (=Kopenhagen!) zu verbringen. Doch da Bolette ihre Winter nicht hinterm Ofen, sondern nutzbringender für uns alle mit dem Schreiben von Geschichten verbringt, findet sie auch eine immer größer werdende Lesergemeinde. Der Vorläufer unseres Erzählbandes liegt jetzt übrigens schon in der dritten deutschen Auflage vor. Schon dort, in „Eisblumen. Begegnungen auf Spitzbergen“, vermischte Bolette Historisches mit Aktuellem, Persönliches mit Allgemeinem und Traditionelles mit Profanem.

Im neuen Band verläßt sie Spitzbergen und den arktischen Norden und erzählt uns Geschichten, die geographisch von Dänemark bis Spitzbergen und von den Aaland-Inseln bis nach Westgrönland reichen und historisch den Zeitraum von 1946 bis 1988 umfassen. Ein ziemlich großes Gebiet also und auch eine ziemlich große Zeitspanne. Zusammengehalten werden diese kleinen, teilweise amüsanten oder gar spannenden Erzählungen hauptsächlich durch die Person der Erzählerin. Bolette läßt uns teilhaben an ihren Erlebnissen auf ihren Reisen. Da kehrt ein verschollener Viermaster als Spukschiff ins heimatliche Aaland zum Sterben zurück. Oder ein schwerer Sturm auf Westeraalen zwingt die Bewohner, den Tag bei Taschenlampenlicht im abgeschnittenen Haus zu verbringen. Und in Lappland auf einer Bahnfahrt trifft sie Mutter Kaisa, eine Puppenmacherin, die eine alte lappische Brautkrone für eine Großnichte mit sich führt. Auf Westgrönland besucht sie ein Kindergrab, geschmückt mit einer henkellosen Tasse und aufgemalter Rose. Bolettes Erzählstil ist sehr lebendig und voll Heiterkeit. Alle Nordlandliebhaber werden mit großem Interesse und innerer Anteilnahme diese gelungenen und treffenden Schilderungen lesen und genießen.

Bolette Petri-Sutermeister: „Eisblumen. Begegnungen auf Spitzbergen“. Luzern-Stuttgart: Rex, 1982.

Bolette Petri-Sutermeister: „Zwischen Mitternachtssonne und Nordlicht. Erzählungen aus dem Hohen Norden“. Rex, Luzern- Stuttgart, 1989.

In anderen Erzählungen wird vor allem das Harte am Hohen Norden und der ewige Kampf betont. Heroische Einzeltaten müssen her, und das Wort Abenteuer wird mit einem möglichst großen A geschrieben, auch wenn es problematisiert und vom Autor durchaus selbst in Frage gestellt wird. Christoph Ransmayr versetzt seinen Protagonisten Josef Mazzini, der vom Faszinosum arcticum infiziert ist und die Entdeckung des Franz-Joseph-Landes persönlich nachvollziehen will, auf ein Schiff. „Es ist der Jahrestag der Entdeckung des Franz-Joseph-Landes. (...) Aber dann stehen sie doch beide mit einer Flasche Aquavit am Bug und plärren drei Hurras in die Kälte hinaus; einen Jubel, der im Kreischen der unter dem Kiel berstenden Schollen dünn klingt.“ Ohne „sein Mekka“ gesehen zu haben, das von der leidgeprüften österreichisch-ungarischen Norpol- Expedition 1873 entdeckt und nach ihrem Kaiser benannt worden war, muß das Schiff mit Mazzini an Bord wieder umkehren. „Am 3.September läuft die ,Cradle‘ in den Adventfjord ein. Es ist früher Morgen. Jetzt gehört Josef Mazzini zu denen, die Spitzbergen umfahren haben. Elling Carlsen, den Eismeister und Harpunier, hatte man für eine solche Fahrt noch mit dem Olafsorden geehrt. Aber lächerlich die Vorstellung, daß nun im Hafen von Longyearbyen auf einem Samtkissen ein Orden bereitliegen könnte. Lächerlich auch die Vorstellung von aufbrausendem Jubel am Pier.“

Christoph Ransmayr: „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“. Fischer, Frankfurt 1987. (Fischer Taschenbuch 5419).

Hingegen gibt es vor allem Frauen, die uns teilhaben lassen an ihrem Leben in den arktischen Breiten und dabei auch von der zarten Natur und den kleinen liebenswerten Alltäglichkeiten erzählen. Sogar für Lyrik ist da noch Platz. Hier zwei weitere Beispiele, die in ihrer Thematik das ganze arktische Jahr umspannen.

Regine Juhls lebt selbst schon seit über dreißig Jahren in der lappländischen Tundra weit nördlich des Polarkreises in Kautokeino, dem Zentrum der norwegischen Samen (=Lappen). Ihre Gedichte regen zum Nachdenken an, sind aber gleichzeitig auch durchströmt von einem wilden Leben und einer Sinnesfreude, die dem ungestümen Beginn des arktischen Sommers nach dem langen Winterschlafe gleicht.

Regine Juhls: „Tapferer Versuch, Leichtsinn vorzutäuschen. 55 Gedichte“. Merlin-Verlag, Hamburg 1979.

Regine Juhls: „Nachtsonnen Mondmittage. Lyrik aus der Tundra“. Keller-Verlag, Starnberg 1979.

Gelassener wirkt da der Reisebericht von Alfred Andersch, der an den besuchten Orten jeweils die passende Literatur zitiert, dadurch den Hintergrund erhellt und uns teilhaben läßt an seinen Eindrücken und Empfindungen. Hier wird Landschaft mit Poesie verbunden, und es kommt dabei gleichzeitig eine alte Literaturgattung wieder meisterhaft zur Geltung. „Wir geraten ins Herumstrolchen. Beispielsweise lassen wir uns dazu verlocken, lange einer großen Bartrobbe zuzusehen, die auf einer Eisscholle liegt, vor einer Gletscherwand. Sie liegt da wie ein schwerer gestrandeter Mensch. (...) Nach einer Weile wendet die Robbe ihren Kopf und sieht uns an, aus runden Augen. Ihre Barthaare sind lang und gesträubt. Warum diese Tiere Seehunde heißen, ist mir unerklärlich. Ich würde sie eher Seemenschen nennen. Etwas Altes und Kluges ist in ihrem Blick.“ Etwas später kommt er im Norden von Westspitzbergen an die Stelle, wo die Hütte des deutschen Jägers Karl Ritter gestanden hat, dessen Frau 1936/37 dort mit ihm einen Winter verbracht hat. Andersch schwärmt von ihrem Buch.

Alfred Andersch: „Hohe Breitengrade“. Diogenes-Verlag, Zürich 1984 (Diogenes Taschenbuch 21165).

Mit Federzeichnungen und ausdrucksstarken Farbaquarellen stattete Christiane Ritter ihr Buch aus, das im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht. 1938 erschien es zum erstenmal und hat inzwischen eine Gesamtauflage von über 200.000! Sehr hoch ist auch schon das Alter von Frau Ritter, die 94jährige lebt bei ihrer Tochter in Wien und erfreut sich guter Gesundheit. Voller Interesse verfolgt sie den Lebensweg ihrer frühen Veröffentlichung und ist immer noch tief bewegt von ihrer Überwinterung im Norden von Spitzbergen. „Angesichts eines solchen arktischen Sturmes wird jeder Mensch wieder zum primitiven Menschen, klein und voller Ahnung. (...) Aber in der Nacht bin ich ruhig. Ich denke an mein Kind daheim, und das gibt mir Ruhe. (...) Ich will jeden Tag, koste es was es wolle, die Tür ausschaufeln, schon damit die Männer ins Haus können, wenn sie ermüdet von langer Tour heimkehren.“ Winter, Winter und wir sehnen uns nach der großen Hitze nach etwas arktischer Kühle.

Christiane Ritter: „Eine Frau erlebt die Polarnacht“. Propyläen- Verlag, Berlin 1938.

Neuauflage bei Ullstein, Frankfurt-Berlin-Wien 1989.

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