: Melancholischer Rückblick
Ein kurzer historischer Lehrgang von der Ersten über die Zweite Internationale unter Aussparung der Dritten und Vierten bis zur Sozialistischen Internationale unserer Tage ■ Aus Berlin Christian Semler
Am Anfang war das Wort, ein schönes, wenngleich rätselhaftes: „Die Klassenkämpfe sind ihrer Form nach national, ihrem Inhalt nach international.“ Karl Marx, der dies im „Kommunistischen Manifest“ schrieb, wandte sich an ein Publikum, das damals noch gar nicht existierte — das internationale Proletariat. Das Kapital, so meinte er, überschreitet leichtfüßig die Grenzen der Nationalstaaten. Das liegt in seiner Natur. Die Arbeiter und erst recht die Arbeiterinnen tun sich da schwerer. Sie haben zwar eigentlich kein Vaterland, sind mit ihm aber dennoch durch tausend Fäden verbunden. Daher die Notwendigkeit der internationalen Organisation. „Proletariar aller Länder, vereinigt Euch!“
Die Erste Internationale, unter dem Namen „Internationale Arbeiterassoziation“ in die Geschichte eingegangen, war zwar keine Gründung von Marx und Engels, stand aber unter ihrer autoritativen Fuchtel. Die straff geführte Organisation leistete in den 60er Jahren nützliche Arbeit. Ihren weltweiten Ruhm allerdings verdankte sie der „Internationale“ der Geheimdienste, für die noch der letzte, lokale Streik das Werk der Londoner Wühler war. Gerade zu dem Zeitpunkt, als die Klassenkämpfe in Europa einen neuen Aufschwung nahmen, zerfiel die zu ihrer Lenkung bestimmte Organisation. Für die Anarchisten war die Führung der Internationale nur ein Spiegelbild der tyrannischen Obrigkeit. Die sich über Jahre hinziehende Polemik war reich an Beschimpfungen, von denen diejenigen, die Bakunin an die Adresse von Marx und die deutsche Arbeiterbewegung richtete, auch heute mit Gewinn zu lesen sind. Kurz, die Erste Internationale wurde 1877 beerdigt.
Aber schon 1889, zur Jubelfeier des hundertsten Jahrestages der Französischen Revolution, versammelten sich in Paris aufs neue die Internationalisten. Die nationalen Parteien, die sie vertraten, wuchsen zu Massenparteien des Proletariats. An die Stelle der zentralisierten Strukturen trat ein lockerer Zusammenschluß, ein Debattenforum. Die deutsche Sozialdemokratie, bewundert wegen ihrer organisatorischen Kraft, wurde zum Musterknaben des Unternehmens. Zum Vorbild auch für die kleinen Kadergruppen, die sich im Osten Europas unter den Bedingungen der Illegalität formierten.
Ideologisch war die Internationale von der hohlen Orthodoxie des „marxistischen Zentrums“ beherrscht. In donnernden Resolutionen wurde der Reformismus verurteilt und zum Widerstand gegen den drohenden imperialistischen Krieg aufgerufen. Wie stark aber die einzelnen Sozialistischen Parteien im Bann ihrer jeweiligen nationalen Bourgeoisien waren, erwies die Katastrophe vom Sommer 1914.
Während sich im Gefolge der Oktoberrevolution die radikale Linke den Bolschewiki anschloß und die Dritte Internationale als straffe, ideologisch abgeschottete Organisation begründete, war der Weg zur Einigung der sozialdemokratisch/sozialistischen Parteien langwieriger. Erst als die Revolution in Westeuropa ausblieb, gelang es, die Linkssozialisten der 2 1/2ten Internationale für ein Zusammengehen mit den „Mehrheitssozialisten“ und für die Neubelebung der Zweiten Internationale zu gewinnen. In ihr dominierten die theoretischen Positionen des Austromarxismus, der den Übergang zum Sozialismus im institutionellen Rahmen des bürgerlichen Staates bewerkstelligen wollte. Auf den wenigen Kongressen, die die Internationale vor dem Zweiten Weltkrieg abhielt, waren Entkolonialisierung und Abrüstung beherrschende Themen. Versuche, die Spaltung der „Internationalen“ zu überwinden, scheiterten an der Starrheit der Sozialisten ebenso wie an dem nur taktischen Verhältnis der Kommunisten zur Demokratie.
Die Internationale der Sozialisten und Sozialdemokraten, die nach dem Zweiten Weltkrieg 1951 in Frankfurt wiedergeboren wurde, war ein Kind des Kalten Krieges, schroff antikommunistisch und auf die Nato orientiert. In der ersten Phase der Entspannungspolitik, in den 60er Jahren, kehrte sie jedoch der Rollback-Strategie den Rücken und trat für kontrollierte Abrüstung ebenso ein wie für ökonomische Kooperation mit dem Osten. In dem Maße, wie europäische sozialdemokratische Regierungen vorsichtig gegen den Stachel der Block-Hegemonie USA/UdSSR löckten, erschloß sich die bislang eurozentrische Sozialistische Internationale ein neues Betätigungsfeld in Afrika und Lateinamerika. Diese Tendenz vertiefte sich, als mit der Präsidentschaft Willy Brandts eine „globale“ Sicht auf die ökologischen und sozialen Probleme der Weltgesellschaft die Diskussionen der Internationale bestimmten. Freilich — die Honoratiorenversammlungen der Sozialistischen Internationale konnten die Krise des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsprojekts ebensowenig thematisieren wie die Konsequenzen, die sich aus dem Zerfall des sozialistischen Weltsystems für den „demokratischen Sozialismus“ ergaben. Kein Wunder, daß der schließliche Zusammenbruch des Realsozialismus die Internationale unvorbereitet traf und sie das Feld Osteuropas und der Sowjetunion für die nächste historische Phase den Konservativen zur Bestellung überlassen mußte.
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