: Die große Politik von Bukarest ist fern
Eine kleine Landgemeinde am Tag nach den rumänischen Wahlen/ Für die ungarische Minderheit war die Abstimmung „ein Bekenntnis zur nationalen Zugehörigkeit“ ■ Aus Virghis Roland Hofwiler
Montags kommt der Milchtransporter nie. Weshalb sollte es einen Tag nach der Wahl anders sein? Virghis hat sich über Nacht nicht verändert. Die kleine Gemeinde mit knapp dreitausend EinwohnerInnen erhofft sich von den Wahlen keine Wende — für die Bauern im Ort ist Bukarest weit, Budapest schon näher. Die Antennen auf den Dächern sind Richtung Norden, nach Ungarn, ausgerichtet. Außer am Ortsnamen „Virghis“ merkt man in der Landgemeinde an nichts, daß man sich in Rumänien befindet.
Die Ungarn sind unter sich. In Vargyas, wie sie ihren Ort nennen, leben außer einem rumänisch-orthodoxen Pfarrer und einer handvoll Roma keine Rumänen. Wen wundert es da, daß hier die „Demokratische Union der Ungarn“ — nach ersten Hochrechnungen — 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte? Der Rest soll an die oppositionelle „Demokratische Union“ gegangen sein, sagen die Leute im Dorf. Außerdem gab es drei Stimmen für die rechtsextreme „Partei Großrumäniens“, eine davon ganz sicher vom orthodoxen Popen im Dorf. So das Ortsgespräch am Tag nach der Wahl.
Dabei dürfte man weder das eine noch das andere wissen. Die Urnen waren nämlich schon wenige Minuten nach dem Schließen des Wahllokals im Bauernhaus neben der katholischen Kirche am Sonntag abend versiegelt und nach Bukarest transportiert worden. Nur dort werden die Stimmen ausgezählt. Eine Wahlhelferin, die gerne unbekannt bleiben möchte, gibt jedoch im Gespräch zu: „Aber wir sind doch neugierige Leut', wir wollen doch wissen, wer wie im Dorfe wählt“. Natürlich habe sie heimlich nachgesehen, wie „der Trend“ gewesen sei. Ungarisch war er, wie immer. Wie bei den ersten Mehrparteienwahlen vor zwei Jahren, aber auch wie unter Ceausescus Herrschaft.
Virghis im Szeklerland ist ein verschlafener Ort. In die Gebirgsgegend verirren sich hin und wieder rumänische Schäfer. Es gibt keine nennenswerten Industriebetriebe, keine Großstädte, die rumänische Zuwanderer anlocken könnten. Und so hat sich hier seit dem Sturz Ceausescus wenig verändert. Manch einer hat zwar seinen Besitz verkauft und ist ins Mutterland Ungarn ausgewandert, doch die meisten blieben. Sie haben ihre Bauernhöfe vergrößtert, die landwirtschaftliche Kolchose aufgelöst und hoffen nun, daß sie Budapest nicht im Stich läßt. Die bereits zitierte Wahlhelferin: „Europa endet in Ungarn. In Rumänien, da wird sich nie etwas verändern. Egal wer im Parlament sitzt. Uns geht es nur darum, daß sich die Verhältnisse so verändern, daß das Ungarntum, und das ist Europa, bis hierher reicht“.
In Virghis träumt man nicht von einem Groß-Ungarn, aber sehr wohl davon, daß zumindest diese ungarische Enklave den Anschluß an Europa findet. Ein Weg, der nicht über Bukarest, nur über Budapest führen werde. Von der großen Politik in Bukarest wollen die Bauern in Virghis wenig wissen. Für sie war die Parlamentswahl eine Volksabstimmung mehr, ein Bekenntnis zur nationalen Zusammengehörigkeit. Das vorläufige Wahlergebnis bestätigt dies in auffälliger Weise: Etwa acht bis zehn Prozent der rumänischen Bevölkerung gehören der ungarischen Minderheit an — ebenso viele Stimmen erhielt der „Demokratische Bund der Ungarn“.
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